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„ … und vergib uns unsere Schuld“

Anmerkungen zur fünften Vater-Unser-Bitte aus
etymologischer Sicht

Als ich unlängst einmal wieder die gotische Bibel hervorholte (warum, wird noch nicht verraten 😉 ), stieß ich im der Ausgabe angehängten Wörterbuch auf den Begriff „skulan“. Er wird mit „schuldig sein, sollen, müssen“ übersetzt und dient im Gotischen zugleich der Bezeichnung des Futurs. In diesem Fall bedeutet er „zukünftig sein, werden, sollen“. Was der „skula“ – der „Schuldige“ – an „skuldo“ – an „Schuld“ – schuldet, ist also das, von dem man jetzt schon sagen kann, daß es definitiv sein wird. Die Schuld ist in diesem Verständnis das, was aussteht, was eingelöst oder bereinigt werden wird.

Denken Sie jetzt auch sofort an das englische „should“? Mir ging es so. Ich assoziierte dieses Wort, dem man die Verwandtschaft mit dem neuhochdeutschen Wort „Schuld“ noch so deutlich ansieht. Auch das Wort „should“ als Vergangenheitsform, aber auch als Konjunktiv des Hilfsverbes „shall“ bezeichnet etwas, das passieren soll. Wie das Chambers Dictionary of Etymology betont (S. 991f), verschwimmt die Differenzierung von „will“ – „werden“ – und „shall“ – „sollen“ – im mündlichen wie schriftlichen Sprachgebrauch jedoch immer mehr und ist heute namentlich im amerikanischen Englisch nicht mehr auszumachen.

Der sprachliche Urahn des Verbs „shall“, nämlich das altenglische „sceal“ – jemandem etwas schuldig sein –, fungierte dem o.g. Dictionary zufolge als Sprachsignal, das ein sicher zu erwartendes zukünftiges Ereignis ankündigte. Der ursprüngliche Sinn von Forderung und Verpflichtung blieb dabei als Konnotation erhalten. Im Mittelenglischen markiert „shall“ dann schlicht und einfach das Futur: „Old English sceal, while retaining its primary sense of obligation or necessity, functioned as a sign of tense announcing a future event that was certain to happen; in the Middle English period, shall began to express simply futurity”.

Geschuldetes zu erstatten, ist unumgänglich, um die Welt wieder ins Gleichgewicht zu bringen: Dieses Empfinden spiegeln die älteren Sprachstufen der germanischen Idiome wider. Auch ritualisierte Bräuche wie der Potlatsch, bei dem nordamerikanische Indianervölker sich bis hin zum eigenen wirtschaftlichen Ruin gegenseitig beschenken, ist ohne ein solches Vorverständnis undenkbar: Man nimmt nicht, ohne zu geben. Unmöglich, daß der Ausgleich unterbleibt. Die Erstattung muß und wird deshalb geschehen.

Und was ist, wenn nicht?

Was ist, wenn wir uns keiner Schuld bewußt sind, weil wir die Wohltaten, die uns zuteil wurden, gar nicht bemerkt haben? Was, wenn wir uns keiner Schuld bewußt sind, weil wir denken, wenn überhaupt, dann seien andere im Unrecht? Was, wenn die Maßstäbe nicht übereinstimmen, nach denen wir im Gegensatz zu anderen Schuldigkeit bemessen oder Gegebenes für selbstverständlich nehmen? Was, wenn unsere Gläubiger nicht mehr leben und wir unsere Schuld – und sei es nur eine immaterielle, nur die Schuld vielfältigen Dankes – nicht mehr erstatten können? Wer richtet dann? Wer bringt die Welt ins Gleichgewicht zurück, wenn wir es nicht vermögen?

Ist für diese Fälle die fünfte Bitte ins Vater Unser gelangt? Ich könnte es mir vorstellen. 

Erzählungen, deren Kern in ebenso ferne Vergangenheiten zurückreichen wie die Forschungen der Sprachwissenschaft, atmen denselben Geist einer objektiven, übernatürlichen Gerechtigkeit, wie es Bräuche anderer Kulturen oder die älteren Sprachstufen des mittel- und nordeuropäischen Raumes tun. In den Erzählungen – etwa Märchen – greift in der Regel eine von den Figuren freilich stets als völlig selbstverständlich hingenommene übernatürliche helfende Macht ins Geschehen ein: sprechende Tiere, wunderliche Alte, verstorbene Ahnen, Hexen und Feen instruieren Heldin oder Helden kenntnisreich und detailliert, händigen ihnen bei Bedarf magische Gegenstände aus und richten das Geschick ihrer Schützlinge meist ohne große Umstände im Handumdrehen.

Da ich noch nie geangelt habe, konnte ich bisher noch nie einen sprechenden Fisch ins Wasser zurückwerfen, um mir seine Zauberkräfte dienstbar zu machen. Auf meinen Spaziergängen wurde ich noch nie von einem Wolf angesprochen und meine Rapunzeln kaufe ich im Supermarkt. Wenn ich beim Schreiben nachdenklich an meinem Fingerring drehe, sitze ich hinterher immer noch im selben Zimmer, und sooft ich Kissen ausschüttele, schneit es nicht. Für mich sieht es also schlecht aus. Die einzige reelle Chance, die mir bleibt, ist, meine Sensibilität für meinen Schutzengel, unsere unsichtbaren Helfer, weiter auszubilden.

Herr, vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Gottes Vergebung ist im Zweifelsfall der einzige bleibende Weg, um die Welt wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Bitten wir ihn mit wachsender Inbrunst darum.

Cornelie Becker-Lamers

 

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