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Der Chesterton-Adventskalender 2024, Tag 5

 There is a sceptic far more terrible than he who believes that everything began in matter. It is possible to meet the sceptic who believes that everything began in himself. He doubts not the existence of angels or devils, but the existence of men and cows. […] That publisher (vgl. Tag 1) who thought that men would get on if they believed in themselves, those seekers after the Superman who are always looking for him in the looking-glass, […] all these people have really only an inch between them and this awful emptiness. Then when this kindly world all round the man has been blackened out like a lie; when friends fade into ghosts, and the foundations of the world fail; then when the man, believing in nothing and in no man, is alone in his own nightmare, then the great individualistic motto shall be written over him in avenging irony. The stars will be only dots in the blackness of his own brain; his mother’s face will be only a sketch from his own insane pencil on the walls of his cell. But over his cell shall be written, with dreadful truth, „He believes in himself.“ (Ch II, The Maniac)

Es gibt einen Skeptiker, der weitaus schrecklicher ist als der, der glaubt, daß alles mit der Materie begann. Es ist möglich, dem Skeptiker zu begegnen, der glaubt, daß alles in ihm selbst begann. Er bezweifelt nicht die Existenz von Engeln oder Teufeln, sondern die Existenz von Menschen und Kühen. […]
Dieser Verleger (vgl. Tag 1), der dachte, dass die Menschen weiterkommen würden, wenn sie an sich selbst glaubten, diejenigen, die nach dem Übermenschen Ausschau halten, und ihn immer im Spiegel suchen, […] all diese Menschen haben in Wirklichkeit nur einen Zoll zwischen sich und dieser schrecklichen Leere.
Wenn dann diese freundliche Welt rund um den Menschen schwarz wie eine Lüge geworden ist; wenn Freunde zu Geistern verblassen und die Grundfesten der Welt versagen; wenn dann der Mensch, der an nichts und an niemanden glaubt, allein in seinem eigenen Albtraum ist, dann wird das große individualistische Motto in rachevoller Ironie über ihn geschrieben werden.
Dann, wenn die Sterne nurmehr Punkte in der Schwärze seines eigenen Gehirns sind und das Gesicht seiner Mutter nichts als eine Skizze von seinem eigenen verrückten Bleistift an die Wände seiner Zelle gekritzelt.
Dann aber soll über seiner Zelle mit schrecklicher Wahrhaftigkeit geschrieben stehen: „Er glaubt an sich selbst.“ (Kap. II, Der Wahnsinnige)

Der Chesterton-Adventskalender 2024, Tag 4

[…] I have described at length my vision of the maniac for this reason: that just as I am affected by the maniac, so I am affected by most modern thinkers. That unmistakable mood or note that I hear from HanwellI hear also from half the chairs of science and seats of learning to-day; and most of the mad doctors are mad doctors in more senses than one. They all have exactly that combination we have noted: the combination of an expansive and exhaustive reason with a contracted common sense. They are universal only in the sense that they take one thin explanation and carry it very far. But a pattern can stretch for ever and still be a small pattern. They see a chess-board white on black, and if the universe is paved with it, it is still white on black. Like the lunatic, they cannot alter their standpoint; they cannot make a mental effort and suddenly see it black on white. (Ch II, The Maniac)

Ich habe meine Sicht auf den Wahnsinnigen aus folgendem Grund so ausführlich beschrieben: So wie mich der Wahnsinnige berührt, so werde ich auch von den meisten modernen Denkern berührt. Diese unverwechselbare Stimmung, diese spezielle Note, die ich aus Hanwell wahrnehme, ich höre sie heute auch von der Hälfte der Lehrstühle der Naturwissenschaft und den Sitzen höherer Bildung; und die meisten der Irrenärzte sind in mehr als einer Hinsicht Irre(n)-Ärzte. Sie alle weisen genau die Kombination auf, die wir festgestellt haben: die Kombination einer umfassenden und erschöpfenden Vernunft mit einem eingeschränkten gesunden Menschenverstand.
Sie sind nur in dem Sinne universell, dass sie eine dünne Erklärung nehmen und sehr weit mit ihr laufen. Aber ein Muster kann sich endlos ausdehnen und dennoch ein kleines Muster sein. Was sie sehen, ist ein Schachbrett weiß auf schwarz, und wenn das Universum damit gepflastert wäre, es wäre immer noch weiß auf schwarz.
Wie der Wahnsinnige können sie ihren Standpunkt nicht ändern; sie können keine geistige Anstrengung unternehmen und es plötzlich schwarz auf weiß sehen. (Kap. II, Der Wahnsinnige)

Der Chesterton-Adventskalender 2024, Tag 3

Imagination does not breed insanity. Exactly what does breed insanity is reason. Poets do not go mad; but chess-players do. Mathematicians go mad, and cashiers; but creative artists very seldom. I am not, as will be seen, in any sense attacking logic: I only say that this danger does lie in logic, not in imagination. Artistic paternity is as wholesome as physical paternity. (Ch II, The Maniac) 

 

Künstlerische Vorstellungskraft führt nicht zum Wahnsinn. Was den Wahnsinn hervorbringt, ist genau die Vernunft. Dichter werden nicht verrückt; Schachspieler schon. Mathematiker werden verrückt und Kassierer; aber kreative Künstler sehr selten. Ich greife, wie man sehen wird, die Logik in keiner Weise an: Ich sage nur, dass diese Gefahr in der Logik liegt, nicht in der Vorstellungskraft. Künstlerische Vaterschaft ist etwas ebenso gesundes wie körperliche Vaterschaft. (Kap. II, Der Wahnsinnige)

Der Chesterton-Adventskalender 2024, Tag 2

This is why ordinary people have a much more exciting time; while odd people are always complaining of the dulness of life. This is also why the new novels die so quickly, and why the old fairy tales endure for ever. The old fairy tale makes the hero a normal human boy; it is his adventures that are startling; they startle him because he is normal. But in the modern psychological novel the hero is abnormal; the centre is not central. Hence the fiercest adventures fail to affect him adequately, and the book is monotonous. You can make a story out of a hero among dragons; but not out of a dragon among dragons. The fairy tale discusses what a sane man will do in a mad world. The sober realistic novel of to-day discusses what an essential lunatic will do in a dull world. (Ch II, The Maniac)

 

Aus diesem Grund haben gewöhnliche Menschen eine viel aufregendere Zeit, während sich geistig seltsame Menschen immer über die Eintönigkeit des Lebens beschweren. Aus diesem Grund überleben auch die neuen Romane nie lange, und aus diesem Grund halten die alten Märchen für immer aus. In den alten Märchen ist der Held ein normaler, menschlicher Junge; seine Abenteuer sind es, die ihn erschrecken; sie erschrecken ihn, weil er normal ist.
Doch im modernen psychologischen Roman ist der Held anormal; das Zentrum ist nicht zentral. Daher versagen die wildesten Abenteuer dabei, ihn ausreichend zu berühren, und das Buch ist eintönig. Man kann von einem Helden unter Drachen eine Geschichte schreiben, aber nicht von einem Drachen unter Drachen. Im Märchen geht es darum, was ein vernünftiger Mensch in einer verrückten Welt tun würde. Der nüchterne, realistische Roman von heute befaßt sich damit, was ein im Grunde Wahnsinniger in einer langweiligen Welt tun würde. (Kap. II, Der Wahnsinnige)

Der Chesterton-Adventskalender 2024, Tag 1

Thoroughly worldly people never understand even the world; they rely altogether on a few cynical maxims which are not true. Once I remember walking with a prosperous publisher, who made a remark which I had often heard before; it is, indeed, almost a motto of the modern world. Yet I had heard it once too often, and I saw suddenly that there was nothing in it. The publisher said of somebody, „That man will get on; he believes in himself.“ And I remember that as I lifted my head to listen, my eye caught an omnibus on which was written „Hanwell.“ I said to him, „Shall I tell you where the men are who believe most in themselves? For I can tell you. I know of men who believe in themselves more colossally than Napoleon or Caesar. I know where flames the fixed star of certainty and success. I can guide you to the thrones of the Super-men. The men who really believe in themselves are all in lunatic asylums.“ […]
And to all this my friend the publisher made this very deep and effective reply, „Well, if a man is not to believe in himself, in what is he to believe?“ After a long pause I replied, „I will go home and write a book in answer to that question.“ (Ch II, The Maniac)

 

Durch und durch weltliche Menschen verstehen nicht einmal die Welt; sie verlassen sich ganz und gar auf ein paar zynische Maximen, die nicht wahr sind. Ich erinnere mich, einmal mit einem wohlhabenden Verleger spazieren gegangen zu sein, der eine Bemerkung machte, die ich schon oft gehört hatte; es ist in der Tat beinahe ein Motto der modernen Welt. Doch ich hatte es einmal zu oft gehört und sah plötzlich, daß es hohl war. Der Verleger sagte über jemanden: „Dieser Mann wird weiterkommen; er glaubt an sich selbst.“ Und ich erinnere mich, daß, als ich meinen Kopf hob, um zuzuhören, mein Blick auf einen Omnibus fiel, auf dem „Hanwell“ stand. Ich sagte zu ihm: „Soll ich Ihnen sagen, wo die Männer sind, die am meisten an sich selbst glauben? Denn ich kann es Ihnen sagen. Ich kenne Männer, die kolossaler an sich selbst glauben als Napoleon oder Cäsar. Ich weiß, wo der Fixstern der Gewißheit und des Erfolgs brennt. Ich kann Sie zu den Thronen der Übermenschen führen. Die Männer, die wirklich an sich selbst glauben, sind alle in Irrenanstalten.“ […]

Und auf all das gab mein Freund, der Verleger, diese sehr tiefgründige und wirkungsvolle Antwort: „Nun, wenn ein Mensch nicht an sich selbst glauben soll, woran soll er dann glauben?“ Nach einer langen Pause antwortete ich: „Ich werde nach Hause gehen und als Antwort auf diese Frage ein Buch schreiben.“ (Kap. II, Der Wahnsinnige)

Der Chesterton-Adventskalender 2024, Vorabend

Ja, ich weiß. Wir hatten hier schon einmal einen Chesterton-Adventskalender. Das war im Jahr 2011 und es war der erste Adventskalender auf PuLa überhaupt, hier.

Und ich will ehrlich sein, dies ist tatsächlich “Plan C” für die 24 “Türchen” dieses Jahres.
“Plan A” war die Beschäftigung mit Person und Werk Heinr…
Aber halt, das verrate ich lieber doch nicht und füge nur hinzu, daß “Plan B” war, aus einem faszinierenden und weitgehend vergessen gemachten (!) Werk katholisch geprägter deutscher Geschichtsschreibung des 19 Jahrhundert (ja, so etwas gab es!!) zu berichten.
Auf beides hatte ich richtig Lust und habe sie im Prinzip natürlich immer noch, aber da ich mich ja immer noch nicht in Pension befinde 😉 , sondern im Gegenteil gerade mehr und vor allem intensiver arbeite, als die letzten Jahre (eine Langzeitvertretung) hatte ich schlicht weder Zeit noch Kraft für die zwingend erforderliche Recherche, denn zu beiden Themen gibt es nichts, aus dem man einfach Auszüge zurecht machen könnte.

Also habe ich ein bißchen muffelig, wenn Sie so wollen, wieder angefangen, ganz wie vor 13 Jahren auf den täglichen Zugfahrten nach und von Erfurt in einem Werk Chestertons zu lesen, näherhin in “Orthodoxy” (1908), das ich zwar natürlich kannte, aber auch schon wieder Jahre nicht gelesen hatte.

Advent, Advent (ok, noch nicht ganz…)

Und wenn ich 2011 über die Lektüre von “The everlasting man” geschrieben habe: 

Noch nachträglich bitte ich meine Mitfahrer in den Zügen zwischen Erfurt und Weimar um Nachsicht, wenn ich gelegentlich über der Lektüre laut losgeprustet habe, kann aber ehrlicherweise nicht versprechen, es nicht wieder zu tun!”

dann kann ich heute nur feststellen, daß sich insoweit nichts geändert hat – glücklicherweise! Denn Chesterton-Lektüre führt unwillkürlich dazu, daß man vor Lachen innehalten muß, innehalten, weil man ruckartig Distanz gewonnen hat zu dem Irrsinn, der einen, nicht zuletzt kirchlicherseits, gerade umgibt.

Was sich sehr geändert hat, sind hingegen die “Produktionsbedingungen”! Mußte ich damals jedes Stückchen Text händisch eingeben, so findet sich heute der englische Text auf “Project Gutenberg” quasi sofort, hier.

Und während damals die elektronische Übersetzung doch noch arg in den Kinderschuhen steckte, so liefert sie heute auf Anhieb recht ordentlich verwertbare Ergebnisse, egal, was man vom allgegenwärtigen Schlagwort “KI” so halten mag. Nacharbeit ist schon immer noch erforderlich, aber sie fällt leichter und macht so mehr Spaß.

Tatsächlich habe ich von “Orthodoxy” sogar eine deutsche Übersetzung zur Verfügung, sie ist im Jahr 2000 als sehr hübsches Buch

„Orthodoxie“, Frankfurt, Main, 2000

in der sehr verdienstvollen Reihe: “Die andere Bibliothek” im Eichborn Verlag erschienen.

„Orthodoxie“, Frontispiz

Aber ich habe nicht nur viel zu viel Achtung vor der schutzwürdigen (und geschützten) Leistung des damaligen Übersetzerpaares, nein, ich strebe auch, wie damals schon, eher weniger eine “literarisch” geglättete, sondern vielmehr eine eher wörtliche (wenn auch daher manchmal vielleicht holprige) Übertragung an, die uns näher an den englischen Ausgangstext bringt; und manchmal bin ich auch einfach nicht einverstanden mit den damaligen Übersetzungsentscheidungen. 

Martin Mosebach schreibt in seinem Vorwort zu der deutschen Ausgabe:

Zu der Spannung, die [Chestertons] Buch belebt, gehört die radikale Subjektivität, mit der er die radikale Antisubjektivität seines Gegenstandes preist.

Das ist sehr gut gesehen und es handelt sich um eine heitere und eine heilsame Spannung, die sich, s.o., nicht zufällig immer wieder in einem befreienden Lachen entlädt!

Und so gilt auch für das jetzt beginnende neue Kirchenjahr wieder:

Kostprobe gefällig?

I freely confess all the idiotic ambitions of the end of the nineteenth century. I did, like all other solemn little boys, try to be in advance of the age. Like them I tried to be some ten minutes in advance of the truth. And I found that I was eighteen hundred years behind it. […] It may be, Heaven forgive me, that I did try to be original; but I only succeeded in inventing all by myself an inferior copy of the existing traditions of civilized religion. […] I did try to found a heresy of my own; and when I had put the last touches to it, I discovered that it was orthodoxy.

Ich gestehe offen all die idiotischen Ambitionen des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein. Ich habe, wie alle anderen feierlichen kleinen Jungen, versucht, der Zeit voraus zu sein. Wie sie habe ich versucht, der Wahrheit etwa zehn Minuten voraus zu sein. Und ich stellte fest, daß ich achtzehnhundert Jahre hinter ihr zurückgeblieben war. […] Es mag sein, der Himmel möge mir vergeben, daß ich versucht habe, originell zu sein; aber es ist mir lediglich gelungen, ganz auf mich allein gestellt, eine minderwertige Kopie der bestehenden Traditionen zivilisierter Religion zu erfinden. […]
Ich habe versucht, meine eigene Häresie zu begründen; und als ich ihr den letzten Schliff gegeben hatte, entdeckte ich, daß es Orthodoxie war.

 

Morgen geht’s los!

 

Gereon Lamers

Der #KatholischeDichtungamDonnerstag-Adventskalender, Tag 24

Nun weiß ich, daß der Herr aus dir redet,
denn du bist seines Schweigens mächtig!
Du hast es erlernt wie eine gewaltige Sprache:
deine Worte sind nur seine Herolde.
Wenn es anhebt, verstummt das Brausen deiner Dome:
deine starken Orgeln alle verhalten ihren Atem.

Deine Psalmen fallen vor ihm nieder, und deine Chöre brechen lautlos zusammen.
Es ist, als beugten sich Meereswogen,
und die großen Stürme falteten ihre Flügel.
Die große Unrast der Menschen verhaucht wie ein Kind.

Schön ist ihr Ende, und selig ist es: sie geht dahin mit Weihrauch und Lichtern in den Händen,
Ihr Sterbelaut ist ein Lobpreis.
Du legst ihn auf deine letzten Gebete, ehe der Herr kommt;
die sind schneeweiß, als blende es deine Stimme:
Niemand kann sie mehr vernehmen.
Denn dich überlichtet schon, dem du erdunkelst:
siehe, er sank hernieder, dem du versinkst.

Gertrud v. Le Fort, Hymnen a.d. Kirche

Gereon Lamers, @GGLamers am 30.12.2021

Gerade in dieser Zeit durfte, konnte eine Quasi-Anthologie Katholischer Dichtung nur mit einem Loblied, einer Hymne an die Kirche enden.
Sie wird sich entweder auch aus der augenblicklichen Malaise wieder erheben, strahlend!, oder aber ihr Ende wird sein, wie hier von Gertrud v. Le Fort beschrieben.
(Was sich nicht auf Dauer fortsetzen wird, ist das unwürdige Theater, das die Mehrheit der Kirche in Deutschland abliefert)

PuLa wünscht allen Leserinnen und Lesern ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest, eine ebensolche Weihnachtszeit (bis 2. Februar! 😉 ) und ein gutes neues Jahr!

Der #KatholischeDichtungamDonnerstag-Adventskalender, Tag 23

Die alten Türme sah man längst schon wanken,
Was unsre Väter fromm gebaut, errungen,
Thron, Burg, Altar, es hat sie all verschlungen
Ein wilder Strom entfesselter Gedanken.

Der wühlt sich breit und breiter ohne Schranken,
Ein Meer, wo zornigbäumend aufgeschwungen
Die trüben Fluten Fels um Fels bezwungen,
Und alle Rettungsufer rings versanken.

Doch drüberhin gewölbt ein Friedensbogen,
Wohin nicht reichen die empörten Wogen,
Und unter ihm ein Schiff dahingezogen,
Das achtet nicht der Wasser wüstes Branden,
Das macht der Stürme Wirbeltanz zuschanden –
O Herr, da laß uns alle selig landen!

Joseph v. Eichendorff, 1848, VI -Das Schiff der Kirche

Getwittert von Herr Rasmus, @herr_rasmus am 22.4. 2021

Der #KatholischeDichtungamDonnerstag-Adventskalender, Tag 22

Aus schwarzgewordnem Bronze-Gruftendeckel
Sind die berühmten schweren alten Verse,
Kalt anzufühlen, unzerstörbar, tragend
Den Toten-Prunk, schwarzgrüne Wappenschilde
Und eine Inschrift, ehern auf dem Erz,
Die denken macht, doch keinen Schauer gibt.
Du liest und endlich kommst du an ein Wort,
Das ist, wie deine Seele oft geahnt
Und nie gewußt zu nennen, was sie meinte.
Von da hebt Zauber an. An jedem Sarg
Schlägt da von innen mit lebendgen Knöcheln
Das Leben, Schultern stemmen sich von unten,
Der Deckel dröhnt, wo zwischen Erz und Erz
Die schmalste Spalte, schieben Menschenfinger
Sich durch und aus den Spalten strömt ein Licht,
Ein Licht, ein wundervolles warmes Licht,
Das lang geruht im kühlen dunklen Grund
Und Schweigen in sich sog und tiefen Duft
Von nächtigen Früchten – dieses Licht strömt auf,
Und auf die Deckel ihrer Grüfte steigen,
Den nackten Fuß in goldenen Sandalen,
Die tausende Lebendigen und schauen
Auf dich und auf das Spiel gespenstiger Reihen
Und reden mehr als du begreifen kannst.

Hugo v. Hofmannsthal, Nach einer Dante-Lektüre

Gereon Lamers, @GGLamers am 22.4.2021

Der #KatholischeDichtungamDonnerstag-Adventskalender, Tag 21

Jungfrau und Mutter, Tochter Deines Sohnes,
bescheidenstes und höchstes der Geschöpfe,
im ewigen Plan bestimmt und auserwählt,

Du hast in Dir die menschliche Natur
so hoch geläutert, daß der Schöpfergott
sich gerne geben ließ als ihr Geschöpf.

In Deinem Blute regte sich die Liebe,
die lebenswarme wieder, die im Frieden
vor Gott hier diese Rose knospen ließ.

Uns Seligen bist Du die Mittagssonne,
die Liebe, und den Sterblichen auf Erden
bist Du der Hoffnung lebensvoller Quell.

Du Herrin bist so groß und bist so mächtig,
daß jedem Flehenden, der Dich nicht sucht,
mit lahmen Flügeln seine Sehnsucht schmachtet.

Zur Hilfe aber eilet Deine Güte
dem Bittenden: und oft aus freier Hand
bringt sie Gewähr, noch eh die Bitte ging.

Frommes Erbarmen, Mitleid, Herrlichkeit
und alles Gute eines Menschenherzens,
in Dir, in Dir, in Dir ist es vereint.

Sieh, dieser, der vom tiefsten Nichts der Welt
bis hieher stufenweise schauen durfte
die geistigen Lebensformen aller Seelen,
fleht jetzt zu Dir.

Verleih ihm, Gnadenvolle,
noch soviel Kraft, daß er mit Augen sich
höher erhebe bis zum letzten Heil.

Dante Alighieri, La Divina Commedia. Paradiso, Canto 33

Getwittert von Herr Rasmus, @herr_rasmus am 23.9.2021