Zurüruck zum Inhalt

“O thou who changest not, abide with me” (3/3)

Beten

Beenden wir nun unseren Beitrag mit für meine Begriffe einem der schönsten Lieder, die Eingang ins Gotteslob gefunden haben. Es ist das Lied „Bleib bei uns, Herr“, das in einem sehr sanglichen Chorsatz in der nicht gereimten Nachdichtung von Franz-Josef Rahe und Paul Ringeisen zu Melodie und Satz von William Henry Monk (1823-1889) unter Nummer GL 94 zu finden ist. Monk vertonte hier einen bis heute im Vereinigten Königreich außerordentlich populären Hymnus von Henry Francis Lyte (1793-1847). Lyte verfaßte den Text, dessen zweiter Strophe der Titel unseres Beitrags entnommen ist, kurz vor seinem eigenen Tod. Die von mir eingangs angesprochene Metapher des „Abends“ für den Tod ist hier besonders greifbar.

Das Lied ist ein „(ö)-Lied, im GL zwar nicht als solches gekennzeichnet, aber selbstverständlich findet sich dieses anglikanische Must-have auch im deutschen Evangelischen Gesangbuch unter der Nummer 488. Zwar ist hier nicht der Chorsatz von Monk mit abgedruckt. Aber die Textübertragung ist deutlich besser, das muß man leider sagen. Alle fünf Strophen sind hier von Theodor Werner 1952 fast wörtlich, aber auch im Deutschen in Reime gefaßt übertragen worden.

Als Hörbeispiel möchte ich Ihnen ein auf dem originalen Chorsatz beruhendes, aber durch Stephen Cleobury mit Oberstimmen angereichertes Arrangement des King’s College Choir Cambridge aus dem Jahr 2011 verlinken. Den englischen Text finden Sie direkt unter dem Film auf YouTube unter dem Stichwort „mehr ansehen“. Enjoy 🙂 !

Neben dem schönen Arrangement mußte es an dieser Stelle die originalsprachliche Fassung sein, weil ich durch das Stichwort „abide!“ – „warte!“, „bleib!“ mal wieder einen kleinen Ausflug in die Etymologie mit Ihnen unternehmen möchte 🙂 . Ich habe ihn schon lange geplant, weil ich die Sache auch schon einmal im Bibelkreis auf meine Freundinnen und Freunde inklusive Professor em. Hentschel losgelassen habe, als es anhand von Psalmen darum ging, ob Gott überhaupt „heute noch“ Gebete erhöre. Durch das „Abide with me“ bietet es sich an, den sprachgeschichtlichen Aspekt des Themas „beten“ auch auf PuLa einmal anzuschneiden.

Abide heißt warten. Erinnert das Wort Sie an etwas? An das Wort bid – die Bitte – zum Beispiel? Dann haben Sie ein sehr gutes Sprachgefühl und sind absolut auf der richtigen Spur. Abide vom Altenglischen bidan, bleiben, wird im englischen etymologischen Wörterbuch mit den entsprechenden Begriffen des Althochdeutschen, Gotischen, Altsächsischen, Altfriesischen etc. in Verbindung gebracht, die sämtlich mit winzigen Abweichungen bidan, biden, bitan, bida etc. lauten und allesamt warten bedeuten. Aus dem deutschen etymologischen Wörterbuch geht hervor, daß auf dem Weg ins Mittelhochdeutsche der mittlerweile zum Wort beiten abgeschliffene Ausdruck durch das Wort warten abgelöst wird. Das deutsche Stichwort beten liefert den Hinweis auf das Wort bitten, zu welchem wiederum das gotische bida etc. der älteren Stufen der verwandten Sprachen begegnet.

Wie kommt es zur Übernahme des Wortes warten für die Idee von beten? Die Sprachhistoriker weisen darauf hin, daß den Germanen die Idee des Betens in unserem Sinne nicht geläufig war. Wie auch? Setzten die unseren Vorfahren bekannten Zaubersprüche den Eingeweihten doch in den Stand, herbeizuführen, was er wünschte: „insprinc haptbandun inuar uigandun“ – „Entspring den Banden, entweich den Feinden“ heißt es zum Beispiel im ersten der Merseburger Zaubersprüche, während der zweite in den Stand setzt, Knochenbrüche zu heilen: „bên zi bêna, bluot zi bluoda, lid zi geliden, sôse gelîmida sîn.“ – „Bein zu Bein, Blut zu Blut, Glied zu Gliedern, wie geleimt sollen sie sein.“ (Überflüssig zu erwähnen, daß auch diese Zitate mir aus dem Munde meines Vaters von Kindheit an bekannt sind und mir dadurch die Liebe zu diesen Sprachzeugnissen untrennbar von ihrer Kenntnis ist 😉 ).

Die Merseburger Zaubersprüche; heute Domstiftsbibliothek Merseburg; das oben Zitierte ist hier ab der Mitte der dritten und in der vierten Zeile bzw. zu Ende des zweiten Abschnittes zu lesen. (Quelle wikipedia gemeinfrei)

Die Idee des Betens im christlichen Sinne mußte auf einen bekannten Begriff gebracht und wie ein Lehnwort übernommen werden. Das christliche Beten zeichnet sich nicht mehr dadurch aus, daß wir selber das Ersehnte herbeiführen können. Wir bitten um die Aufmerksamkeit, zu bemerken, wann Gott uns das Erflehte schenkt. Wenn wir beten, warten wir. So scheint das Tertium Comparationis von warten und beten das Vertrauen zu sein – noch erhalten im lateinischen fidere (die Lautverschiebung eines labialen Reibelautes zum bilabialen Verschlußlaut kennen wir ja zur Genüge aus life/Leben, love/lieben, have/haben etc. So erklärt sich auch die Verwandtschaft von fidere und bitten.) Unser Gottvertrauen ist die Empfindung, die uns erwarten läßt, was wir erflehen.

 

Cornelie Becker-Lamers

Einen Kommentar schreiben

Ihre Email wird NIE veröffentlicht oder weitergegeben. Benötigte Felder sind markiert *
*
*

*