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Der Mann auf dem Tuch…

… zu meiner Verblüffung in der Hendrichs-Ausstellung

Auf die Hendrichs-Gedächtnisausstellung hatten wir ja anläßlich ihres 100. Geburtstages am 7. Juni 2023 hingewiesen. Wir müssen aber noch einmal darüber schreiben. Denn inzwischen waren wir dort – und haben das geschnitzte Acheiropoieton entdeckt.

Das was? Das geschnitzte Acheiropoieton. 😉 Ein A-cheiro-poieton ist der griechische Ausdruck für ein nicht-Hand-gemachtes Werk, ein materialisiertes Gottesgeschenk. Als solches wird das Abbild Christi auf dem Turiner Grabtuch bezeichnet, welches auf Initiative der Malteservereinigung derzeit im Erfurter Dom zu sehen ist. Also – das Abbild des Abbildes ist zu sehen: eine fotografische Reproduktion der kostbaren Berührungsreliquie, ein Hologramm des Heiligsten Antlitzes, eine plastische Ganzkörperrekonstruktion des Herrn anhand der Informationen auf dem Tuch und jede Menge Erläuterungstafeln zu den Geheimnissen, die das Tuch seit seiner ersten Fotografie im Jahr 1898 im Verlauf etlicher wissenschaftlicher Untersuchungen preisgegeben hat.

Hologramm: Eine zum Verkauf stehende Vervielfältigung des Antlitzes Christi vom Turiner Grabtuch (eigenes Bild)

Die Malteser haben da eine sehr interessante Ausstellung erarbeitet. Ich möchte ausdrücklich auf den Internetauftritt hinweisen, der die Inhalte der Ausstellungstafeln ebenfalls wiedergibt, hier. Klicken Sie sich durch die Seite, es lohnt sich! Fotografien aus der Ausstellung macht sie hier auf PuLa überflüssig.

Aber wir wollten ja auch nicht über die Grabtuchausstellung schreiben, sondern über die Hendrichsausstellung. Sie ist sehr gut präsentiert und so manches Exponat wirkt in der Ausstellungsatmosphäre, mit der Raumhöhe der Schottenkirche und dem Licht des gotischen Chorraums völlig anders als an seinem bekannten Ort. So tut etwa dem „Schmerzensmann“ aus Erfurt, St. Severi (eigentlich ein Herz-Jesu-Altar) der zusätzliche Platz über dem Kopf ebenso gut wie die Lichtverhältnisse in Schotten und die Erhöhung der gesamten Figur: Das 1983 im Zuge einer Umsetzung der Figur ins bischöfliche Kunstdepot verbrachte Schnitzrelief, das der Altarfigur als Antependium diente, ist für die Ausstellung wieder hinzugefügt worden. Auch die präsentierten Zeichnungen, die von den künstlerischen, anatomischen und Gewand-Studien Hendrichs zeugen, lohnen Ausstellungsbesuch wie Katalogerwerb.

Umwerfend aber bereits der erste Schritt in die Kirche. Vor weinrotem Tuch, dessen Farbe auf die Passion verweist, ist der Altarraum von einem Frühwerk Hildegard Hendrichs gefüllt. Erfüllt, möchte man sagen – so prachtvoll erscheint, was am üblichen Ort, hoch über Kopf im nördlichen Querarm von St. Nikolaus Melchendorf, düster und abweisend wirkt: eine Kreuzigungsgruppe, die die Künstlerin im Alter von 25 Jahren, frisch aus der Rhön nach Erfurt in ihrer ersten, in Melchendorf gelegenen Werkstatt angekommen, 1948 schuf. Und nicht nur der Raum tut dem Schnitzaltar gut. Die Farbigkeit der Präsentation läßt auch die Schottenkirche ganz anders wirken.

Derzeitiger Blick in die Schottenkirche, in der noch bis 15. September 2023 die Gedenkausstellung für Hildegard Hendrichs zu sehen ist (eigenes Bild)

 

Eine Kreuzigungsgruppe von 1948 als zentraler Blickfang im Chorraum der Schottenkirche, sonst St. Nikolaus Melchendorf (eigenes Bild)

Haben Sie das Antlitz Christ vom Turiner Grabtuch frisch im Kopf und treten noch näher an die Figuren heran, machen Sie eine elektrisierende Entdeckung: Der Kopf gleicht dem Mann auf dem Tuch!

Der Christuskopf der Kreuzigungsgruppe gleicht dem Antlitz Christi auf dem Turiner Grabtuch (eigenes Bild)

So erging es mir am 5. Juli, als ich aus der Grabtuchausstellung, in der ich als Freundschaftsdienst insgesamt dreimal Aufsicht geschoben habe, in die Schottenkirche kam. Verblüfft tauschte ich mich mit Dr. Bornschein aus, der die Hendrichsausstellung ja konzentriert über ein Jahr hinweg vorbereitet hat. Auch ihm war die Ähnlichkeit der Physiognomien aufgefallen.

Wie kann das sein? Hildegard Hendrichs wuchs in Berlin in einer eher kirchenfernen Familie auf. In ihrer Autobiografie hält sie fest: „Zu Hause waren meine Eltern, als ich zehn Jahre alt war [also 1933], vorübergehend aus der Kirche ausgetreten und ich bekam wegen meinem Drängen, weiter in die Kirche zu gehen, große Schwierigkeiten.“ (Erlebt und Erfahren, Erfurt 1994, S.10)  Hier wird in dieser Zeit das Wissen um heilige Gegenstände und Reliquien also vermutlich nicht geschult worden sein. Auch suchte Hildegard Hendrichs eher den Aufenthalt in der Natur und auf Bauernhöfen, wenn sich ihr irgend die Gelegenheit bot, den Straßenfluchten der Großstadt zu entfliehen. Im Alter von 19 Jahren, mitten im Zweiten Weltkrieg, wählte sie daher Thüringen, genauer Empfertshausen in der Rhön, als Ausbildungsstätte für ihre Bildhauerlehre aus. Erst hier entdeckte sie, „daß man täglich zur hl. Messe gehen konnte und wieviel Kraft davon kam“ und intensivierte ihren Kirchbesuch. Auch in ihrer Kunst war der christliche Inhalt nicht von Anfang an gegeben. Den Unterrichtsinhalten entsprechend schnitzte sie Aktfiguren und wurde erst durch einen Priester auf die Idee zu Marienfiguren gebracht. In 14 Tagen Unterricht bei einem „Herrgottschnitzer“ schuf sie ihr erstes Kruzifix. Die Probleme in der Ausbildungsstätte ließen nicht auf sich warten. Christliche Kunst war verboten und „als ich zurück in die Schule kam, sie war halt nationalsozialistisch, wurde ich fast rausgeschmissen. Das Christentum hätte die Kunst verdorben, hieß es, und ich verdürbe jetzt den Geist der Schule.“ (ebd. S.12) Der Ausbildung schloß sich, dem dringenden Bedarf entsprechend, noch vor Kriegsende eine Tätigkeit als Volksschullehrerin in der Rhön an. 1948 kam Hendrichs nach Erfurt, einige Jahre vor ihrem ersten Aufenthalt in Italien, in Rom.

Kann Hendrichs neben Ausbildung und Lehrtätigkeit mit Abbildungen des Turiner Grabtuches in Berührung gekommen sein, die die frappierende Ähnlichkeit ihrer Schnitzfigur mit dem Antlitz Christi auf dem Tuch erklären können? Da persönliche Nachkommen Hendrichs‘ fehlen, sind dergleichen detailliertere persönliche Erzählungen und Hinweise der Künstlerin rar. Tatsächlich erschien 1939 im Karlsruher Badenia-Verlag unter dem Titel „Das heilige Grabtuch von Turin“ eine Kunstdruckmappe „der letzten amtlichen Lichtbilder“ von Giuseppe Enrie. 

Das brauchte es doch alles gar nicht! höre ich Sie stöhnen und sich an die Stirn schlagen: Das Grabtuch hat doch eine ganze Abbildungstradition ausgebildet! Natürlich hat sie irgendwas davon gekannt! – Das ist selbstverständlich richtig. Aber die ikonografische Tradition, die auch auf das „Schweißtuch der Veronika“ übergegangen ist, pflegt die ‘Vera icon’ in durchaus unterschiedlichen Physiognomien auszuformen. Da ist der Vollbart mal spitz, mal dreigeteilt, das Gesicht meist eher herzförmig als schmal – und vor allem: immer sind Jesu Augen offen! Wie Hans Belting festhält, war der darin enthaltene Nachweis, daß Christus sein Antlitz aktiv, persönlich und bei vollem Bewußtsein in ein Tuch gedrückt hatte, u.a. ganz wesentlich für die westkirchliche Umgehung des Abbildverbots nach dem großen abendländischen Schisma (Bild und Kult, München 1990, S.234). Christus wollte abgebildet werden – also durfte man es auch trotz seiner Doppelnatur.

Der strikt geradeaus gerichtete Kopf, der nicht auf eine Schulter herabsinkt, die geschlossenen Augen mit den stark hervortretenden Lidern, das von oben bis unten schmale, geradezu rechteckige Gesicht, der dicke Schnurrbart und der charakteristisch asymmetrisch zweigeteilte Bart, die Form der Nase – die Ähnlichkeiten des Werkes der jungen Hildegard Hendrichs mit dem Abbild des Turiner Grabtuches sind frappierend. Je länger man hinschaut, desto mehr Parallelen fallen auf. Ich mag die Vorstellung, daß die junge Künstlerin intuitiv zur richtigen Form des Heiligen Antlitzes gefunden hat.

 

Cornelie Becker-Lamers

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