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Sketch des Monats: Das Wunderkind

Ein Sketch für sechs Personen

Wundersdorf, Oderbruch. Im Wohnzimmer der Familie Schwarz. Gastgeber Hanna und Karl haben sich mit Richard und Edith, Silke und Hedwig zusammengesetzt und leeren soeben die erste Flasche Wein. Man muß eine gemeinsam erlebte Aufführung Neuester Musik verarbeiten und hat sich zum Trost etwas Mozart in den CD-Spieler geschoben.

Hanna: Da sind das alles hochausgebildete Musikerinnen und Musiker – und dann fahren sie mit dem Staubtuch über die Saiten und trommeln mit dem Bogen auf ihrem Instrument herum! (Sie nippt an ihrem Weinglas.)

Karl (schüttelt den Kopf): Also ich werde daraus auch nicht wirklich schlau.

Silke: Es kommt mir vor, als ob dieses ganze Konkrete und diese ganze Kunst ohne jede inhaltliche Aussage oder Bedeutung in der Bildenden Kunst irgendwie am wenigsten stört.

Edith: Du meinst: Eine einfarbige Leinwand – dagegen kann eigentlich niemand was haben?

Karl: Stimmt! Man streicht ja auch eine Wand farbig und hat sie dann in der Wohnung.

Hanna: Das war ja auch Rodschenkos Credo, vor 100 Jahren: Bilder malen ist wie Wände streichen …

Richard: Immer dieses Schlußstriche ziehen im Namen aller ungefragten Anderen ist natürlich der Gipfel des Totalitären!

Silke: Hm! … Stimmt. Aber ich meine, wem‘s nicht gefällt: Man kann besser die Augen zu machen als die Ohren. Also Musik, die sich vollzieht … das geht einem einfach näher.

Karl: Apropos Musik: Die „Prager“ war schon immer meine Lieblingssinfonie. (Er lauscht der Musik aus den Lautsprechern. Auch alle andern sind einen Moment lang still und hören zu.)

Silke (nach einer Weile): Unvorstellbar, was dieser Mensch uns noch geschenkt hätte, wäre er nicht mit 35 Jahren gestorben!

Hedwig: Heute wäre das alles heilbar … Streptokokken …

Hanna (nickt): Antibiotika! Fertig!

Silke: Wäre Mozart heute geboren … was hätte er für Möglichkeiten gehabt!

***

Ediths Gedanken schweifen ab. Sie hört für einen Moment nicht mehr zu. Vor ihrem geistigen Auge entrollt sich der Lebenslauf eines 1980 geborenen Mozart:

„Der Vater wird angeklagt, weil er seinen Sohn bereits im Kindesalter hat auftreten lassen. Weitere Auftritte und Konzertreisen werden mit Blick auf das Kindeswohl untersagt. Ein Nervenzusammenbruch des Vaters im Zusammenhang mit der Beantragung öffentlicher Gelder wirft die Entwicklung des Knaben eine weitere Zeit zurück. Da er aufgrund seiner Leistungen im Fach Mathematik das Abitur nicht besteht, schreibt er sich im Alter von 20 Jahren an einer Musikhochschule im Fach Komposition ein. Studienfragen im Stil von ‚Komponieren Sie, wie man eine Couch herabrollt‘ erreichen das junge Genie nicht. Wechselnde Beziehungen und eine zeitweilige Drogenabhängigkeit behindern die konzentrierte Arbeit und den Erfolg zusätzlich. Als er im Alter von 35 Jahren an den Folgen eines Motoradunfalls stirbt, hinterläßt er zwei Phantasien für Regenrinne und Gartenschlauch sowie einen Instrumentalzyklus für 23 frei wählbare Schlaginstrumente.“

***

Richard: Hallo!!!! (Er rüttelt Edith an der Schulter.)

Edith (schreckt auf): Oh! Entschuldigung! Ich war in Gedanken.

Silke (lacht): Hat das Thema, was Mozart heute für Möglichkeiten hätte, dich so mit Beschlag belegt?

Edith (lächelt matt): Genau das.

Karl: Ob du noch einen Schluck Wein möchtest, hatte ich dich gefragt.

Edith: Danke! Ich halte mich an deine Nußmischung.

 

ENDE

 

Cornelie Becker-Lamers

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