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Wer nur den lieben Gott läßt walten (1/2)

Vermischtes zu Rezeption und Fortwirken eines „Trostliedes“

 

Die Weimarer Gedenkandacht

Vorgestern wäre Georg Neumark 400 Jahre alt geworden. Neumark? Nie gehört? Gut möglich! Aber sein bekanntestes Gedicht, das von ihm selber so bezeichnete „Trostlied“ mit der Anfangszeile „Wer nur den lieben Gott läßt walten“ kennen Sie auf jeden Fall, vermutlich in seiner eigenen Vertonung. Neumark selber hat es in seiner Sammlung „Fortgepflantzer musikalisch-poetischer Lustwald“ 1657 in Jena publiziert. Am 16. März 1621 in Langensalza geboren, studierte er mit Hindernissen und Unterbrechungen in Königsberg Jura und kehrte über Danzig und Thorn im Alter von 30 Jahren nach Thüringen zurück. In Weimar wurde er herzoglicher Kanzleiregistrator und Bibliothekar. Aber er wurde auch Sekretär („Erzschreinhalter“) der 1617 in Weimar gegründeten „Fruchtbringenden Gesellschaft, jener Sprachakademie, die, weil etwa eine Generation älter als ihr französisches Pendant, wohl als Vorbild der bis heute fortbestehenden „Académie Françaisegelten muß. [Anm. der Redaktion: DAS wäre mal ein Thema für das Weimarer Dreieck, oder? 😉 ] Am 8. Juli 1681 verstarb Neumark hier in Weimar und liegt auf dem Jakobsfriedhof begraben, wo eine Gedenktafel an ihn erinnert.

Die Gedenktafel für Georg Neumark an der Innenseite der Weimarer Friedhofsmauer um St. Jakob, aktuell geschmückt mit frischen Blumen (eigenes Bild am 17. März 2021)

Weimar wäre nicht Weimar, gäbe es nicht Kulturbürger, die anläßlich eines Gedenktages wie des 400. Geburtstages eines solch verdienstvollen Mitbürgers wie Neumark dem an St. Jakob zuständigen Pfarrer Hardy Rylke in der Organisation einer würdevollen Andacht zur Hand gingen. Und so verfaßte denn auch Bernd Mende, Mitautor des Stadtlexikons, Stadt- und Friedhofsführer und Glockenkenner unserer Kulturstadt, für den gestrigen Tag ein Faltblatt mit Konterfei, Lebensabriß und Trostlied-Text Neumarks, so daß die kleine, aber tapfere Fangemeinde zu den Klängen eines solistischen Vokalensembles und des Posaunenchors der Kreuzkirche unter Leitung der Kantorin Brigitte Kliegel alle sieben Strophen des allseits bekannten Trostliedes mitsingen konnten, als man sich ab 17.00 Uhr für eine gute halbe Stunde an der Jakobskirche versammelte. Tapfer mußte die Fangemeinde dabei tatsächlich sein, denn vermutlich aus Sorge vor den omnipräsenten Augen des Ordnungsamtes und der zu erwartenden unberechenbaren Geldstrafen bei Zuwiderhandeln fand die Andacht nicht nur mundnasenbedeckt, sondern bei 4 Grad, Regen und steifer Brise im Freien statt. Aber – was geschieht heute nicht alles, da die Sorge um die Gesundheit auf die Einhaltung irgendwelcher „Corona-Schutzmaßnahmen“ zusammengeschnurpst ist … 😉

Bemerkenswert glaubwürdig paraphrasierte Pfarrer Rylke den Liedtext und untersetzte ihn mit Zitaten Vertriebener und anderen Weltkriegserinnerungen. Also mit Erzählungen aus einer Zeit, in der Menschen wirklich nichts hatten und gerade deshalb ihr Gottvertrauen nicht verloren. Wie Neumark selber: Er dichtete „Wer nur den lieben Gott läßt walten“ 1642, als er, auf dem Weg nach Königsberg ausgeraubt und nur knapp dem Tod entronnen, in Hamburg gestrandet und als Hauslehrer untergekommen war.

 

Vertonungen des Trostliedes

In jedem Artikel zu Neumarks Trostlied wird hervorgehoben, wieviele Vertonungen der Text erfahren hat. Am bekanntesten ist die eigene Komposition des Dichters, die Johann Sebastian Bach in seinem sogenannten „zweiten Leipziger Kantatenjahrgang“ zur freilich mannigfaltig variierten und in den solistisch besetzten Mittelstrophen auch textlich erweiterten Grundlage seiner Kantate „Wer nur den lieben Gott läßt walten“ mit der BWV-Nummer 93 für den 5. Sonntag nach Trinitatis im Juli 1724 gemacht hat.

Bezifferte Baßlinie und Melodie aus Neumarks „Fortgepflantzem musikalisch-poetischer Lustwald“, dem Erstdruck des Trotzliedes (Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek; Quelle: wikipedia)

So erscheint das Lied denn auch unter Nr. 369 des Evangelischen Gesangbuches mit der Angabe, daß Georg Neumark 1641 den Text und 1657 die Melodie verfaßt habe. Das Lied steht hier im 6/4-Takt und ist in der Randspalte mit einem „ö“ für das ökumenische Liedgut bezeichnet. Das Gotteslob bot bis 2013 unter den Nummern 295 und 296 zwei Varianten, wovon die zweite als „ökumenische Fassung“ mit einem „ö“ gekennzeichnet war und Neumarks originalen Rhythmus wiedergab. Unvergeßlich geworden ist die Liednummer durch ihre Apostrophierung in der Nachwende-Filmkomödie „Vaya con dios“ aus dem Jahr 2002, in der sich ein dreistimmiger Liedsatz von Tobias Gravenhorst aus einem Gemeindegesang herausschält. Man beachte, daß hier die sehr schöne vierte Strophe „Er kennt die rechten Freudenstunden“ erklingt, die allerdings im alten wie im neuen GL fehlt. In jedem Fall eine sehr lohnende Szene! Enjoy 🙂 

Im neuen Gotteslob erscheint Neumarks Lied unter der Nummer 424 mit einem eingeklammerten (ö) (zu dem Spaß, den man beim Versuch haben kann, die ö-Kennzeichnungen unserer Gesangbücher zu verstehen, haben wir uns ja an anderer Stelle schon geäußert) und der rätselhaften Angabe, die Melodie sei um 1736/37 nach Georg Neumark von Johann Sebastian Bach geschaffen. Die Einklammerung des „ö“ verdankt sich vermutlich der Tatsache, daß das Lied  gegenüber Neumarks Rhythmisierung einen entscheidenden Unterschied aufweist: Bach hat in seiner wie gesagt 1724 komponierten Kantate aus Neumarks Dreivierteltakt einen Viervierteltakt  gemacht und die gelängten Noten verkürzt. Aus dem für die Rede von Gott und Christus eigentlich sehr angemessenen „Tempus perfektum“ Neumarks wird das „Tempus imperfektum“ eines Viervierteltaktes. Das greift auch in die Wirkung der Worte ein, da beispielsweise aus Neumarks „liiiiiiebem Gooooooott“ nun ein „lieber Gott“ wird. Aber der symbolvertonungsdurchdrungene Bach wird sich schon etwas dabei gedacht haben. Hören Sie in die Kantate doch einmal hinein:

 

Cornelie Becker-Lamers

 

Fortsetzung folgt voraussichtlich am Dienstag, dem 23. März 2021

Ein Trackback/Pingback

  1. […] geringeres als der unlängst erst erwähnte Bernd Mende konnte mir nach einiger fruchtloser Recherche die Bedeutung dieser Gasse erklären. Zwar wußte […]

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