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Das Ungleichgewicht, oder: Schwerkraft paradox

Es war einmal, in einer ganz normalen Gemeinde, irgendwo in Deutschland…

Das Ungleichgewicht

Eine Parabel für einen Engel, acht Personen und beliebig viele Statisten

 

(Ein fast dunkler Ort. Offenbar ist man irgendwo sehr tief unten. Eine riesige Waage füllt den Raum. In der einen Waagschale schweben in schwindelnder Höhe ein Pfarrer, ein Kirchenvorstandsmitglied und einige Ehrenamtler einer Kirchengemeinde, die andere Waagschale wird von einer großen neuen Kirchenorgel ausgefüllt und ganz nach unten gezogen. Eine große Traube ganz verschiedener Menschen versucht, die Waagschale mit der Orgel nach oben zu stemmen.

In sicherer Entfernung sitzen ein emeritierter Bischof, daneben ein Weihbischof, ein Dechant und die Seelsorgeamtsleitung und betrachten die Szene.)

Pfarrer (ratlos): Seit wir diese neue Orgel haben, kommt unsere Gemeinde irgendwie immer mehr aus dem Gleichgewicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, ich hätte keinen rechten Boden mehr unter den Füßen.

Kirchenvorstandsmitglied: Laß uns noch ein paar Ehrenamtler rausschmeißen, die sollen drüben mit schieben. (Mit vereinten Kräften werfen sie zwei Personen über die Kante der Waagschale, eine hält ein Lektionar, die andere Notenpapier unter dem Arm. Mit einem Hilferuf fallen sie in die Tiefe. Instinktiv springt der Dechant auf und möchte sie auffangen, wird aber zurückgehalten und setzt sich wieder hin. Einige Personen aus der oberen Waagschale springen daraufhin aus Protest ebenfalls ab. Sie alle versuchen von nun an zusammen mit der Menschentraube, die Waagschale mit der Orgel nach oben zu drücken – ohne Erfolg.)

Kirchenvorstandsmitglied (hinüber zu der Menschentraube): Na los! Strengt euch mal ein bißchen an! (Sie wartet einen Moment. Unzufrieden): So wird das nichts! Es ist aber auch zu ärgerlich! Wenn man nicht alles selber macht!

Pfarrer: Ob wir beten sollten? (Wie durch ein Wunder hebt die Waagschale mit der Orgel sich ein wenig an.)

Kirchenvorstandsmitglied (das nichts bemerkt hat): Hm?

Pfarrer: Na, da gab es doch mal dieses Kirchenlied „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“

Kirchenvorstandsmitglied: Na ja, schaden kann‘s nicht! Öfter mal was neues!

Beide (singen): „Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott, erhör mein Rufen.“

(Ein Engel kommt herabgeschwebt und setzt sich auf die Waagschale zu der Orgel. Sofort schwingt die Waage ins Gleichgewicht.)

Kirchenvorstandsmitglied (zu dem Engel): Na bitte! Geht doch! Schön sitzen bleiben!

Pfarrer (versetzt ihr einen Rippenstoß): Lieber Engel! Unsere Gemeinde ist im Ungleichgewicht. Was sollen wir tun. Seit die Orgel da ist – was fehlt denn da auf unserer Seite?

Der Engel (mit behauchter Stimme): Euer Dank!

(Kirchenvorstandsmitglied und Pfarrer blicken sich unschlüssig an.)

Kirchenvorstandsmitglied (ärgerlich): Was hat er gesagt?

Pfarrer (unsicher): Ich hab‘s auch nicht genau verstanden.

Kirchenvorstandsmitglied: Irgendwas mit –ank. „Krank“ vielleicht?

Pfarrer: Aber das ist doch keine Antwort auf meine Frage, was hier fehlt!

Kirchenvorstandsmitglied (begeistert): Ich hab’s! Schrank! Neuer Schrank!

Pfarrer: Meinst du wirklich?

Kirchenvorstandsmitglied: Na klar! Die dicke Orgel – das Gegengewicht ist ein neuer Schrank. Logisch! Komm, wir statten das hintere Büro neu aus. Gefiel mir sowieso schon nicht mehr, der olle Tisch und dieser Schlüsselschrank! Puh!

Pfarrer: Ja aber – ich weiß nicht …

Kirchenvorstandsmitglied: Natürlich! Die Gemeinde hat jetzt die Orgel bekommen, da müssen wir hier in der Gemeindeleitung zum Ausgleich auch etwas bekommen! Deswegen statten wir das hintere Büro neu aus.

Pfarrer (zögernd): Ich weiß nicht, ob der Engel nicht was gesagt hat wie „euer Dank“ …?

Kirchenvorstandsmitglied (prustet los): „Euer Dank“! So ein Blödsinn! Dank ist doch nichts! Wie soll Dank so eine schwere Orgel aufwiegen. Neinneinnein, es kann nur etwas Materielles gemeint gewesen sein. Außerdem: Wem hier in dieser Gemeinde für irgendwas gedankt wird und wem nicht, entscheide immer noch ich alleine!
(Der Engel erhebt sich, und sofort reißt es die Waagschale mit der Orgel wieder ganz nach unten. Kirchenvorstandsmitglied und Pfarrer können sich nur mit knapper Not an der Kante der Waagschale festhalten, um nicht hinausgeschleudert zu werden.
Neues, massives Büromobiliar schwebt zu Pfarrer und Kirchenvorstandsmitglied in die Waagschale, die sich daraufhin jedoch nur noch weiter hebt.)

Kirchenvorstandsmitglied: So ein Mist!

Pfarrer (mit einem ängstlichen Seitenblick auf das Kirchenvorstandsmitglied): Engel! Lieber Engel! Komm noch einmal wieder!

(Der Engel schwebt auf die Orgel-Waagschale. Die Waage kommt wieder ins Gleichgewicht.)

Pfarrer (zerknirscht): Lieber Engel! Wir machen alles falsch! Sag bitte nochmal, was du meintest!

Der Engel:

Daß, der euch einst die neue Orgel brachte,
des Instrumentenreiches Königin,
nicht EBEN DARUM in Verbannung schmachte,
das leite fürder einzig euren Sinn.

Klang hilft dem Wort, bei euch zu zelten.
Er gab drum Lieb und Lebens Teil.
Bemüht euch nicht, es zu vergelten:
Nur Gott vergilt, was hier nicht feil.

Doch wollt des Dankes Schuld ihr nicht entrichten
in Anerkennung, Achtung, freier Hand,
Vertrauen als des Erstvertrauens Pfand:
Dann rächt dies der, der alles richtet,
der Reuigen vergibt, doch Schuld verdichtet
für die, die and’rer Werk vernichtet,
dann rächt dies Gott durch eure Schmach und Schand!
Kehrt um! Nicht endet Eure Stunden
Gewogen und zu leicht befunden!

 

(Der Engel erhebt sich wieder und die Waagschale mit Pfarrer und Kirchenvorstandsmitglied schießt erneut nach oben.)

Pfarrer (verblüfft und ratlos): Und jetzt?

Kirchenvorstandsmitglied (stöhnt): Sind wir so schlau wie vorher! Ach! Es k…t mich an, wenn einer sich so gewählt ausdrückt!

Die Seelsorgeamtsleitung (hat dem Geschehen mit wachsender Unruhe zugesehen und beugt sich zu Altbischof und Weihbischof hinüber und flüstert): Warum darf der Professor eigentlich nicht orgeln?

Der Weihbischof: Weil er die Orgel schon konzipiert und das Geld zur Finanzierung beschafft hat.

Die Seelsorgeamtsleitung: Ach so! Richtig! Deshalb ist das Instrument ja auch nicht Eigentum der Pfarrei!

Der Weihbischof: Pssst! Das soll doch in Vergessenheit geraten!

Die Seelsorgeamtsleitung: Also gut, davon mal abgesehen … er ist … Professor für Orgelimprovisation!

Der Weihbischof: Genau! Und das Prinzip des Ehrenamts in der Kirche dort beruht auf Improvisation, also darauf, daß jemand von einer Sache nichts versteht und eben „improvisiert“.  Ein Profi in Improvisation widerspricht diesem Prinzip!

Die Seelsorgeamtsleitung (verstört): Aber … er könnte doch sicherlich sehr viel einbringen … durch seine Kunst … wäre das nicht ein starker Impuls für die Verkündigung, für die Pastoral?

Der emeritierte Bischof: Ich warne vor einer Pastoral, die nur die Starken sammeln will.

(Die Seelsorgeamtsleitung holt noch einmal Luft, sagt aber vorläufig nichts mehr)

 

Cornelie Becker-Lamers, Weimar

 

Es war einmal? Oder ist es am Ende noch und ist die Gemeinde wirklich „ganz normal“? Und wie lange kann sowas gehen? Ach, was weiß denn ich… 🙁

2 Trackbacks/Pingbacks

  1. […] Aus seiner Dankesrede sei hier nur ein Satz zitiert: „Auf dem Weg durch die nachrevolutionären Jahrhunderte haben die Menschen Gewicht abgeworfen, die Schuldunfähigkeit, die sie sich attestieren, hat sie federleicht gemacht.“ Schön, nicht? Woher kennen wir nur auf PuLa schon diesen Gedanken des inneren Zusammenhangs von spezifischen Unfähigkeiten mit dem Phänomen der Leichtgewichtigkeit?  Woher nur? […]

  2. […] Auf und Ab der Waage ist die Waagschale mit unserem Kirchenvorstandsmitglied eines Tages völlig aus der Welt […]

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