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„dein Opfer war ein halbes nur“

Warum wir die Mutter Maria brauchen

Beruflich habe ich mir in den nächsten Monaten u.a. Theodor Storm vorzunehmen. Der 1817 in Husum geborene und 1888 nahe Rendsburg und Eckernförde verstorbene Jurist und Schriftsteller war übrigens zwischen 1856 und 1864 auch im thüringischen Heiligenstadt als Kreisrichter tätig. In einem Gedichtband des achtfachen Vaters fiel mir folgender Text auf:

An deines Kreuzes Stamm

An deines Kreuzes Stamm o Jesu Christ
Hab ich mein sorgenschweres Haupt gelehnt;
Doch Trost und Kraft kam nicht von dir herab;
——
Du hattest weder Weib noch Kind, du warst
Ein halber Mensch nur; unseres Lebens Kern
Hast du nur halb erprobt; was uns die Welt,
Uns Lebenden, an Ungeheu’rem auferlegt,
Du hast es nicht gekannt; dein Opfer war
Ein halbes nur. – Wärst du getreu befunden,
Wann man dein Weib, dein Kind ans Kreuz geschlagen?
Die Antwort bliebst du schuldig. – Wohl mit Dank,
Mit Liebe blick ich zu dir —-
— doch mich erlösen
Das kannst du nicht. – Einsamer Qualen voll
Neig ich das Haupt; da legt sich lebenswarm
Ans Herz mir eine viel geliebte Last;
—- und wie sie sich fassen,
Fühl ich den Ring des Lebens fest geschlossen
Gleich einer Mauer gegen Tod und Lüge.
Ich bin getröstet. – Komm geliebtes Weib
Wir müssen eigner Heiland sein.

Theodor Storm (1863)

Wie menschlich. Wie verständlich. Wie bitter. Aber vor allem: wie protestantisch.

Mir fiel sofort Maria ein, die Mutter des Herrn, die im katholischen Glauben genau das ‚abdeckt‘, was dem lyrischen Ich in Storms Gedicht fehlt: Den ganzen Menschen, die Mutter, die ihren Sohn sterben sehen muß. „Du Frau aus dem Volke, von Gott ausersehn, dem Heiland auf Erden zur Seite zu stehn, kennst Arbeit und Sorgen ums tägliche Brot, die Mühsal des Lebens in Armut und Not“, heißt es bekanntlich in der 3. Strophe des Kirchenliedes „Maria, Dich lieben“ (GL 521).

Man rollt zwar bei dieser Textstelle mit Fug und Recht auch die Augen. Zu sehr kontrastiert sie mit der Überlieferung von Marias Verwandtschaft ins Priestergeschlecht (Lk 1, 36 ff.) und dem großen Reichtum ihres Vaters: Das Protevangelium des Jakobus beginnt sein Erstes Kapitel mit dem Bericht des immer doppelten Opfers Joachims, der bestimmt: „Mein Überfluß soll dem ganzen Volk und mein Pflichtteil Gott, dem Herrn, zu meiner Versöhnung gehören.“ Schwer vorstellbar (nebenbei bemerkt) daher auch, daß Maria Elisabeth aufsuchte, um ihr „im Haushalt zu helfen“, wie man es zuweilen in Maiandachten zu hören bekommt. Als Frau eines Priesters hatte Elisabeth vermutlich Personal. Und auch Maria war aus gutem Hause: Michael Hesemann spricht von ihrer Abkunft aus Davidischem Stamm väterlicher und aus dem Priestergeschlecht mütterlicherseits (hier – konkret etwa von Minute 5:10 bis etwa 7:00. Im übrigen sind alle vier Teile des Films mehr als empfehlenswert!)

 

Dennoch wäre der Volksglaube kein Volksglaube, wenn er nicht neben allem andern auch genau die Inhalte bereit hielte, die wir im Kirchenlied finden: Maria ist Identifikationsfigur für jeden Menschen. Mit der Zuweisung des Johannes als Sohn (Joh 19, 26f.) hat Jesus am Kreuz alle Menschen in die Obhut Mariä gegeben. Das habe ich von meiner irakischen Freundin gelernt, als wir einen Kreuzwegtext gemeinsam ausgearbeitet haben und sie ihre chaldäischen Texte zu Rate zog. Maria ist die Mutter aller Menschen. Sie ist nicht nur durch eigenes, sondern auch durch mitempfundenes Leid gegangen und hat es getragen. So kann sie den Schmerz aller Menschen zu tragen helfen. Wir können uns stützen. Wir können uns gegenseitig trösten. Aber wir müssen nicht – und wir können nicht – , wie Theodor Storm es empfindet oder befürchtet, „eigner Heiland sein“.

Im Zuge der Recherche für den vorliegenden Text bin ich auf eine knapp 10 Jahre alte Publikation aufmerksam geworden , in der Christian Demandt „Religion und Religionskritik bei Theodor Storm“ erforscht. Das 273 Seiten starke Buch erschien 2010 im Rahmen der Husumer Beiträge zur Storm-Forschung im Erich-Schmidt-Verlag Berlin und steht in der Weimarer Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek zur Kurzausleihe zur Verfügung.

Cornelie Becker-Lamers

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