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Die Allmende

Die Allmende

Ein Sketch für sieben Personen und ein Insider-Wortspiel

 

Wundersdorf/ Oderbruch. Das allseits beliebte griechische Restaurant „Bacchos“. Hanna und Karl, Edith und Richard, Emily, Teresa und Silke sitzen bei einem der letzten abendlichen Kräutertees, die ihnen die diesjährige Fastenzeit noch auferlegen wird. Dazu haben sie einige Scheiben Knoblauchbrot bestellt. Vom Nebentisch zieht verführerisch der Duft von gebratenem Lammfleisch mit Pommes herüber und die Biergläser klacken aneinander. Aber man weiß ja, was man sich schuldig ist. Schließlich ist heute nicht irgendein Tag, sondern der Dienstag der Karwoche.

Aber wenigstens ist ab morgen schulfrei, und Emily und Teresa sind entsprechend guter Dinge. Gerade fachsimpeln unsere Freunde über den gestrigen Tag: Zu Bachs Geburtstag, der im allgemeinen am 21. März begangen wird, hatte der neue Pfarrer das Pfarrhaus von Maria Hilf! Wundersdorf für Musik und Begegnung geöffnet. „Bach in the subways“ nennt sich die weltumspannende Organisation, die die Hochkultur in die vermeintlichen Niederungen des Alltags transportieren will und in die man sich da mutig eingeklinkt hatte.

 

Hanna: Aber ist doch super gelaufen, gestern.

Richard: Ich sage ja immer: „Just do it!“

Silke: War ja schon auch ein Risiko.

Edith: Klar! Wir wußten ja wirklich alle nicht, wer überhaupt die Werbung gelesen hat, wer kommen würde …

Emily: … ob wir zu viel Programm haben würden oder zu wenig … (Sie beginnt mit Teresa zu flüstern und Teresa verschwindet daraufhin in Richtung Garderobe.)

Karl: Aber es war ein voller Erfolg!

Richard (resümiert): Ich denke auch: Da hat der Pfarrer einen Grundstein gelegt.

Silke: Das kann sich jetzt weiterentwickeln und einbürgern.

Hanna: Wie das Treppenhauskonzert im Schloß: Einer muß es erstmal initiieren, damit es irgendwann zum Allgemeingut werden kann.

Edith: Zur „Allmende“ – wie man früher so schön sagte.

Teresa (kommt mit ein paar Zetteln von der Garderobe zurück): Was ist alles Mende?

Hanna: Das Treppenhauskonzert im Schloß.

Edith: Allmende hab ich gesagt – Allgemeingut. Das war im übertragenen Sinne gemeint.

Emily: Ich dachte, Allmende war der Löschteich.

Karl: Alles mögliche war Allmende. Früher.

Teresa (breitet einige Zettel vor sich aus): Also, wir haben ja übrigens was zu „O Haupt voll Blut und Wunden“ herausgesucht …

Silke (energiegeladen): So muß es mit unserer „Musik im Pfarrhaus“ auch werden: Kulturelle Allmende.

Emily: „Bach im Pfarrhaus“ als geistiger Löschteich?

Edith (lacht): Genau: „Wer von diesem Wasser trinkt, wird nie wieder Durst haben!“

Teresa: Könnten wir jetzt mal anfangen?

Alle (durcheinander): Wir hören! – Entschuldigt! – Legt los, ihr zwei!

Silke: Was war denn los mit „O Haupt voll Blut und Wunden“?

Emily: Irgendwie hatte jemand zwischen zwei Keksen thematisiert, ob das überhaupt von Bach ist.

Silke: Na klar! Matthäuspassion.

Teresa: Langsam!

Emily: Jeder kennt es aus der Passion …

Edith: … und aus dem WO – „Wie soll ich dich empfangen“

Karl: Genau. Das soll sich ja sogar aufeinander beziehen.

Hanna: Stimmt! Stand im alten Gotteslob, Bach wollte eine Brücke zur Passion schlagen.

Emily: Jetzt laßt uns doch mal ausreden! Das ist alles Blödsinn!

Karl: Ouh!

Edith: Was ist denn richtig?

Emily: Theologisch ist das ja alles sehr verführerisch …

Teresa: … in den Verkündigungsbildern kommt Jesus ja auch mit dem Kreuz auf der Schulter zu Maria herabgeschwebt …

Emily: … aber was die Musik betrifft, stimmt es trotzdem nicht.

Teresa: Also: Der Text von „O Haupt voll Blut und Wunden“ ist von Paul Gerhardt, und zwar eine Übersetzung von (sie konzentriert sich) „salve caput cruentatum“ von Arnulf von Löwen, der lebte von 1200 bis 1250.

Richard (halb für sich): Oh ja, damals als es in Löwen noch garantiert häresiefrei zuging…

Teresa (blickt ihren Vater streng an und fährt fort): Die Musik ist von Johann Crüger.

Emily: Hä? Hatten wir nicht gesagt …

Teresa: … der ein älteres Lied von Hans Leo Haßler, 1564-1612, dafür hergenommen und rhythmisch ein bißchen vereinfacht hat.

Emily: Genau. Ein Liebeslied mit dem Titel „Mein gmüth ist mir verwirret, das macht ein junckfraw zart“. (Sie hebt die Augenbrauen).

Teresa: Also, ich würde sagen, eigentlich ist die Melodie von diesem Hans Leo Haßler.

Emily: Und Johann Crüger, der übrigens in Berlin Organist war, in Sankt Nicolai, hat die Zuordnung zu dem Paul-Gerhard-Text vorgenommen.

Edith: Hm! Okay. Und wie kommt die ganze Chose ins Weihnachtsoratorium?

Emily: Daaaas ist wieder etwas anderes: Das Lied von dem Haßler war nämlich schon einmal mit einem anderen Text unterlegt worden …

Teresa: … Kontrafaktur heißt das.

Emily: Genau. In dem Fall eine geistliche Kontrafaktur auf dieses weltliche Lied.

Teresa: Moment! Da stand doch, die Anfangsbuchstaben von den fünf Strophen bilden den Namen „Maria“ und man kann das Lied auch als Liebeslied an die Gottesmutter verstehen.

Emily: Ui! Stimmt! Hatte ich vergessen. Dafür würde ja dann auch der Dreiertakt sprechen.

Karl (anerkennend): Die hatten‘s früher einfach drauf! (Er trinkt einen Schluck Tee.)

Silke: Wie die Minnesänger. Da changiert die Verehrung der weltlichen Herrin und der Gottesmutter auch immer.

Emily: Jedenfalls war das Lied zu Bachs Zeiten ein beliebtes Weihnachtslied. Also „Mein gmüth ist mir verwirret“ ist von 1601 und 1613 war dann schon die Kontrafaktur, „Herzlich thut mich verlangen“.

Edith: Ja gut, das war dann, als Bach das WO geschrieben hat, schon 120 Jahre alt. Oder?

Emily: Ja, kommt ziemlich genau hin. Und Bach hat die Melodie im WO genutzt, eben weil sie bekannt war – damit die Leute den Choral mitsingen können. Dann reichte es halt, den Text abzudrucken.

Hanna: Ah!

Silke: Schlau!

Karl: Ja, Mensch! Vielen Dank, ihr beiden! Da habt ihr ja richtig geschuftet!

Edith: Und wir haben wieder was gelernt.

Richard: Also – nicht von Bach!

Emily: Nee, nicht von Bach. Nur der spezielle Satz. Also die Harmonien und so.

Hanna: Gut – will auch gelernt sein.

Silke: Aber – wo Sie grad sagen: „Nun seid ihr wohl gerochen“ – ich könnte gut noch so ein Knoblauchbrot essen.

Alle lachen und Karl schaut sich nach dem Wirt um.

 

ENDE

 

Cornelie Becker-Lamers, Weimar

Ja, so geht’s zu in Wundersdorf! Bloß gut, daß es in diesem kleinen Städtchen so verläßliche Bibliotheken gibt. Für alle, die nicht nur bei Wikipedia nachlesen wollen, hier Teresas Literaturliste:

  • Bach-Handbuch, hg. Konrad Küster, Kassel: Bärenreiter 1999, S. 477: „Wie soll ich dich empfangen“ geht nicht auf „O Haupt voll Blut und Wunden“, sondern auf ein seinerzeit beliebtes Weihnachtslied von Hans Leo Haßler zurück.
  • Bach-Lexikon, hg. Michael Heinemann, Laaber 2000: Das Kirchenlied „Herzlich thut mich verlangen“ von H.L. Haßler ist die Grundlage für den ersten („Wie soll ich dich empfangen“) wie abschließenden („Nun seid ihr wohl gerochen“) Choral des WO.
  • MGG, Personenteil Bd. 8, Sp. 840, Artikel zu Hans Leo Haßler; darin zur Entstehung des „Herzlich thut mich verlangen“.
  • Meinrad Walter, Johann Sebastian Bach, Weihnachtsoratorium, Kassel: Bärenreiter 2006, kommentiert zur Rahmung des Werkes mit ein und demselben Cantus Firmus („Wie soll ich dich empfangen“ als erster Choral in Teil I, „Nun seid ihr wohlgerochen“ als letzter in Teil VI und damit im Gesamtwerk): „Daß gerade diese Melodie mittels des ebenfalls auf sie gesungenen Chorals „O Haupt…“ zugleich – und vor allem für heutige Ohren – eine Brücke von Weihnachten zur Passion schlägt, ist zwar nicht Bachs unmittelbare Absicht oder gar Erfindung, aber doch in der damaligen mehrfachen Verwendung solcher Melodien begründet. Die ‚Kontrafaktur‘ genannte Praxis verdeutlicht, wie sehr die das Kirchenjahr prägenden Heilsgeheimnisse (Mysterien) Christi, hier ‚incarnatio‘ und ‚passio‘, zusammengehören und wie wenig sie überdies von der ‚Welt‘ getrennt werden dürfen; man denke an den bekannten weltlichen Ursprung dieses Liedes bei Hans Leo Hassler“. (S. 33f.)

    Edith würde sagen: Als nicht intendierte verweist die heute gehörte „Brücke von Weihnachten zur Passion“ auf die Bedeutungstiefe großer Kunst, die sich in jeder Generation, für jede Hörerschaft neu erschließt und in ihrer Tiefe stets neue Erkenntnisse zutage fördert.

5 Kommentare

  1. monticola schrieb:

    Bitte Paul Gerhard noch ein t spendieren.
    🙂

    Mittwoch, 23. März 2016 um 15:57 | Permalink
  2. O, äh, ja, wird gemacht. Wer soll das auch immer wissen können, so mitten zwischen all diesen alten Protestanten, die Musik gemacht haben, hm? 🙂

    Mittwoch, 23. März 2016 um 21:28 | Permalink
  3. monticola schrieb:

    „Wer soll das auch immer wissen können?“
    Dieses understatement wird nur überzeugen, wer nicht weiß, welche Bücher hinter dem Rücken des Bloggers im Regal stehen …
    SCNR 😉

    Mittwoch, 23. März 2016 um 21:39 | Permalink
  4. 🙂 Nun, in dem Fall eher hinter der Bloggerin…

    Samstag, 26. März 2016 um 18:12 | Permalink
  5. Cornelie schrieb:

    Wenn wir alles wissen wollten, was hinter unserem Rücken passiert … 😉

    Sonntag, 27. März 2016 um 00:40 | Permalink

2 Trackbacks/Pingbacks

  1. […] machte, die für einen anderen Text komponiert worden und schon eingeführt war. Sowas kennt man ja. Man konnte nicht zu jedem Text Noten stechen. Im Fall von „Geh aus, mein Herz“ hat der […]

  2. Pulchra ut Luna › Die Wahrheit kennt keine Zeit on Freitag, 7. April 2023 um 22:05

    […] PuLa-Leser wissen, daß ich vor sieben Jahren in einem Sketch einmal gegen die These angeschrieben habe, die den Choral „Wie soll ich dich empfangen“ aus Bachs Weihnachtsoratorium (WO) mit dem […]

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