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„Ich habe den lebendigen Gott versucht!“

Vorbild- oder Parallelerzählung? Die ungläubige Salome

Eine Nachfrage meiner Tochter rief mir unlängst eine Textstelle aus der Legenda Aurea des Jacobus de Voragine (1228-1298) in Erinnerung. Jacobus, ab 1292 Erzbischof von Genua, hat mit dieser um die Mitte der 1260er Jahre verfaßten und ab 1470 auch gedruckten Legendensammlung zu Heiligen und den Festen des Kirchenjahres ein Werk hinterlassen, dessen Einfluß auf Volksfrömmigkeit und Brauchtum, aber auch auf Kunst und Heiligenikonographie kaum überschätzt werden kann. In zahlreiche Volkssprachen übersetzt, bildete die Legenda Aurea über Jahrhunderte hinweg eine der wichtigsten Quellen der Heiligenverehrung und war Grundlage von Gebeten und Andachtsformen.

In diesem Buch nun findet sich unter der Überschrift „Geburt Christi“ ein en passant erzähltes Motiv, das durch seine Parallele zur im heutigen Evangelium gehörten Erzählung vom Ungläubigen Thomas (Joh 20,24-29) dennoch Interesse weckt. Es heißt in der Legenda Aurea im Kontext von fünf Beweisen für die Jungfrauengeburt aus Maria:

Als die Zeit nahte, da die heilige Jungfrau gebären sollte, rief Joseph, obwohl er nicht daran zweifelte, daß Gott aus der Jungfrau zur Welt kommen werde, nach der Sitte seines Landes Hebammen herbei, von denen die eine Zebel, die andere Salome hieß. Als Zebel sie nun untersuchte, sah sie, daß sie Jungfrau war, und rief aus, eine Jungfrau habe geboren. Weil aber Salome dies nicht glauben, sondern, wie Zebel, selber nachprüfen wollte, vertrocknete alsbald ihre Hand. Da erschien ihr ein Engel und hieß sie den Knaben berühren, und alsbald war sie wieder geheilt.
(Jacobus de Voragine, Legenda Aurea, Auswahl und Übersetzung aus dem Lateinischen von Jacques Laager, Zürich: Manesse 1990, S. 435f.)

Jacobus, der spätere Erzbischof von Genua, hat diese Erzählung natürlich nicht selber erfunden. Sie begegnet uns auch im bekannten sogenannten Protevangelium („Vorevangelium“) des Jakobus, das in seiner Entstehung auf die Mitte des 2. Jahrhunderts datiert wird. Dort heißt es im achtzehnten bis zwanzigsten Kapitel:

Und [Josef] fand dort eine Höhle und führte sie [Maria] hinein, ließ sie in der Obhut seiner Söhne und ging hinaus, um eine hebräische Hebamme im Gebiet von Bethlehem zu suchen. Und er fand eine, die gerade auf dem Weg vom Gebirge herab war, und nahm sie mit. […] Josef sprach zur Hebamme: „Maria ist meine Verlobte, aber sie hat vom Heiligen Geist empfangen, nachdem sie im Tempel des Herrn aufgezogen worden ist.“ Und die Hebamme ging mit ihm. Als sie zur Stelle kamen, wo die Höhle war, bedeckte eine dunkle Wolke die Höhle.

Die Hebamme sprach: „Erhoben ist meine Seele, heute, da meine Augen Wunderbares geschaut haben, heute, da Israel das Heil geboren ist.“ In diesem Moment verzog sich die Wolke von der Höhle und es zeigte sich ein großes Licht in der Höhle, so daß es für die Augen nicht zu ertragen war. Kurz darauf verlor sich dieses Licht und das Neugeborene war zu sehen. Es kam und nahm die Brust von seiner Mutter Maria. Da schrie die Hebamme auf und sagte: „Wie groß ist der heutige Tag für mich, da ich dieses wunderbare Schauspiel gesehen habe.“

Die Hebamme verließ die Höhle. Da begegnete ihr Salome, und sie sprach zu ihr: „Salome, Salome, ich habe dir ein wunderbares Schauspiel zu erzählen. Eine Jungfrau hat geboren, obwohl das doch ihre Natur nicht zuläßt.“ Salome aber erwiderte: „So wahr der Herr, mein Gott, lebt: Wenn ich nicht meinen Finger hineinlege und ihre geschlechtliche Eigenart untersuche, werde ich nicht glauben, daß eine Jungfrau geboren hat.“

Salome ging hinein, ließ sie die entsprechende Stellung einnehmen und untersuchte ihre geschlechtliche Eigenart. Und Salome schrie auf: „Ich habe den lebendigen Gott versucht! Siehe, meine Hand fällt wie von Feuer verzehrt von mir ab.“ In jener Stunde aber, als sie zum Herrn betete, wurde die Hebamme geheilt. Denn siehe, ein Engel des Herrn, stand vor Salome und sagte: „Dein Gebet wurde von Gott, dem Herrn, erhört. Tritt heran und faß das Kind an. Es wird die Rettung für dich sein.“

Sie verhielt sich so, und Salome wurde geheilt, als sie sich vor ihm niederwarf. Daraufhin ging sie aus der Höhle heraus. Siehe, da rief der Engel des Herrn mit (lauter) Stimme: „Salome, Salome, erzähle niemandem, was du Wunderbares gesehen hast, bis der Knabe nach Jerusalem gekommen ist.“
(Ceming/ Werlitz, Die verbotenen Evangelien. Apokryphe Schriften, Wiesbaden: marix 2004, S. 86-88; Auslassung und Hervorhebung im Original) 

Michelangelo Merisi, genannt Caravaggio, Der ungläubige Thomas (1601/02 – Bild: wikimedia commons)

Eine Randglosse der Herausgeber der apokryphen Schriften, aus denen ich zitiert habe, informiert uns darüber, daß andere Textzeugen des Protevangeliums eine noch längere Version der Hebammenerzählung bieten (S. 86). Angesichts der Relevanz eines glücklichen Geburtsvorgangs und des damals daraus resultierenden hohen sozialen Ansehens von Hebammen keine Überraschung.

Mit dem Protevangelium des Jakobus, das die Geschichte aus der Legenda Aurea auch bereits festhält, sind wir zudem so nahe an die Entstehungszeit der Evangelien, die Eingang in den Kanon der Bibeltexte gefunden und behalten haben, herangerückt, daß sich die Frage nach Vorbild- und Parallelerzählung entschieden aufdrängt. Vollzieht sich doch in der Erzählung vom Ungläubigen Thomas im Gegensatz zur Hebammengeschichte der Gottesbeweis an einem für seine Beweiskraft durchaus austauschbaren Körperteil. Wir halten uns jedoch nicht für befugt, hierzu eine belastbare Aussage zu treffen und möchten es bei der Bereitstellung der beiden zitierten Textstellen für heute belassen.

Wie heißt es jedenfalls im Johannesevangelium so schön im Anschluß an die Thomaserzählung? „Noch viele andere Zeichen, die nicht in diesem Buch [dem kanonischen Evangelium] aufgeschrieben sind, hat Jesus vor seinen Jüngern getan.“ (Joh 20,30) Weswegen ja auch die Kirche in ihrer unendlichen Weisheit Schrift und Tradition zu den Grundlagen unserer Glaubenspraxis macht. 😉

 

Cornelie Becker-Lamers

 

Wobei ich gerne anmerken würde, daß die Festlegung der kanonischen Schriften einen zentralen Teil der natürlich nicht beliebigen Traditionsbildung ausmacht und, so legitim und ggf. auch plausibel Parallelerzählungen  und  Ausschmückungen sind, der jeweilige Rang der beiden Texte doch ganz klar bleibt.
Dennoch, das eine vom anderen her beleuchten kann fruchtbar sein!
Nicht ganz einverstanden bin ich mit dem “austauschbaren Körperteil”. Das könnte m.E. nur in einer arg verkürzten, sozusagen biologistischen, Sicht der Dinge Bestand haben.
Zwar ist richtig, daß Thomas selbst
vor der Begegnung mit dem HErrn noch von mehreren möglichen Wunden spricht, die er berühren möchte, um zu glauben, aber selbstverständlich legt er dann in der konkreten Begegnung die Finger nicht zufällig in die Seiten-Wunde: Hier hat sie schon begonnen, die Zeit der Kirche, die Kirche aber floß aus dieser Wunde! (vgl. Ez 47,1-9; Ps 117,1)

Gereon Lamers

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