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Die Pfarrei-Erschöpfungs-Studie

Lange, o, allzu lange haben wir nichts mehr aus Wundersdorf gehört! Aber so ist das eben, wenn Veränderungen betrachtet, beurteilt und vielleicht auch bewältigt werden wollen.

Aber natürlich gibt es sie noch, unsere Freunde, und ihre Beobachtungen haben nichts an Witz eingebüßt. An Relevanz übrigens auch nicht…

 

Die Pfarrei-Erschöpfungs-Studie

Ein Sketch für zwei Personen

 

Wundersdorf, Oderbruch. In der Wohnküche der Familie Langenfeld. Vorletzten Freitag. Edith kommt mit ein paar Einkäufen hereingeschnauft und trifft auf Richard, der mit einer Tasse Tee am Tisch sitzt und in einem zusammengetackerten Stoß Papier blättert.

Edith: Ah! Du bist ja schon da! (Sie geht zu Richard und begrüßt ihn.)

Richard: Klar! Du weißt doch: Freitag ab Eins …

Edith (räumt Milch und Joghurt in den Kühlschrank): … macht jeder seins. Haha! Erstens ist es zehn nach halb fünf und zweitens schaffst du das ja sonst auch nicht. (Sie klappt die Kühlschranktür zu.)

Richard: Aber heute.

Edith (gießt sich eine Tasse Tee ein und setzt sich Richard gegenüber): Und? Was liest du da schönes?

Richard (klappt die Titelseite des Papierstapels nach oben, so daß die Schrift lesbar wird): „Pfarrei-Erschöpfungs-Tag“. Sie haben eine Studie erstellt und ich lese gerade im Kapitel „Wundersdorf“.

Edith: Aus unserem Ordinariat?

Richard: Nein. Die Studie ist fertig geworden.

Edith (unaufgeregt): Ah! Na, dann kann sie nicht aus unserem Bistum sein. (Sie trinkt.) Aber sag mal: „Pfarrei-Erschöpfungstag“ – was soll das denn sein?

Richard: Das ist analog dem Welterschöpfungstag zu verstehen.

Edith: Der jetzt schon war? Als die Ressourcen für 2017 erschöpft waren und weswegen wir alle jetzt über unsere Verhältnisse leben?

Richard: Naja: „weswegen“ ist nicht ganz richtig – aber im Prinzip: ja.

Edith: Und? Wann ist es in Wundersdorf so weit?

Richard: Für die musikalischen Aktivitäten fällt der Pfarrei-Erschöpfungstag 2017 auf den 23. Mai 2183.

Edith (bricht in Gelächter aus): 2183? Was soll das denn heißen? Welche Ressourcen sind denn dann erst erschöpft? Das Geld doch nicht?

Richard: Nein. Das Potential an Ehrenamtlern im Bereich Kirchenmusik.

Edith (faßt sich an die Stirn und lacht): Die Ressourcen an Ehrenamtlern reichen in Wundersdorf schon heute bis 2183. Na, dann ist ja alles in Ordnung.

Richard: Ja – wenn wir so weiter machen wie bisher. (Vorsichtig) Ich glaube, du hast es noch nicht ganz begriffen. Die Studie versteht Pfarrei-Erschöpfungstage, die in der Zukunft liegen, als Alarmsignal für die Verantwortlichen.

Edith (stutzt): Wie meinst du?

Richard: Ich meine gar nichts – die Studie meint.

Edith: Jetzt sag doch mal!

Richard (trinkt einen Schluck Tee und setzt sich ein wenig aufrechter hin): Also – was ist wohl der ideale Zeitpunkt für den Pfarrei-Erschöpfungstag?

Edith: Äh – keine Ahnung … der 31.12.?

Richard: Na klar! Der 31.12. Wenn der Pfarrei-Erschöpfungstag auf den 31. Dezember fällt, bedeutet das, man hat das Potential an ehrenamtlich Tätigen voll ausgeschöpft, aber auch niemanden überlastet. Die Verantwortlichen haben dann optimal die Leute motiviert und ihren Auftrag, eine Gemeinde mit Ausstrahlung aufzubauen, voll erfüllt.

Edith: Ja – und bei uns?

Richard: Ist das Potential hoch und in puncto Motivation, Kommunikation und Vernetzung der Leute geht noch was. Sagt die Studie.

Edith (verteidigt ihre Pfarrei): Aber Meßdiener haben wir jetzt immer.

Richard: Bei den Meßdienern schneidet Wundersdorf auch wirklich gut ab. Da liegt der Pfarrei-Erschöpfungstag für 2017 auf dem 3. Januar 2018. Aber da reißt sich der Pfarrer halt auch ein Bein aus, sie haben hier alle Maßnahmen aufgelistet: Persönliche Einladungen, Plakate, aktualisierte Mailverteiler und Telefonlisten, alles persönlich von ihm, dann Ministrantentage mit Basteleien und Spielen, Ausflüge, Fußballturniere, Weihnachtsgeschenke mit handgeschriebener Weihnachtskarte für jeden Meßdiener, der Wettbewerb zum „Ministranten des Jahres“ …

Edith: Was für‘n Ding?

Richard: „Ministrant des Jahres“. Das ganz Jahr über hängt eine Strichliste in der Sakristei, wer am häufigsten gedient hat – mußt du doch beim Putzen schon mal gesehen haben?!

Edith: Nö. Mir fällt sowas nicht auf (sie lacht) du kennst mich doch.

Richard (stöhnt): Na gut, dann ist es dir eben nicht aufgefallen – mir schon. Also da wird motiviert bis zum Abwinken.

Edith: Naja … die Meßdienerei war ja auch mal fast eingeschlafen. Da mußte sich ja was tun.

Richard: Stimmt. Das war zuletzt grenzwertig. Aber jetzt hat es der neue Pfarrer eigentlich ganz schön aufgeforstet und könnte sich auch anderen Gruppen zuwenden.

Edith: Eigentlich richtig. Er hat immerhin jährlich einen Etat, unter anderem um ein vielfältiges Gemeindeleben aufzubauen.

Richard: Genau. Und Gemeindeleben ist eben nicht nur die Messe.

Edith: Sozusagen im Gegenteil.

Richard: Eben. Die Messe ist der Kern und die Grundlage, aber Freundschaften schließen kann man nur, wenn man sich auch unterhalten kann.

Edith: Und in welchem Punkt kommen sie nun auf dieses Datum in 150 Jahren?

Richard: 166. Bei der Kirchenmusik. Hab ich doch schon gesagt.

Edith: Ach ja! Und wie kommen sie darauf?

Richard: Eigentlich gar nicht so dumm. Sie gehen z.B. davon aus, daß eine Pfarrei von der Größe der unseren in jeder Altersgruppe Chorarbeit anbieten kann.

Edith: „Wer singt, betet doppelt“.

Richard: „Der Königsweg der Verkündigung“, genau. Und daß sich, wenn irgendein Chor eine Messe gestaltet, mehr Sänger im Chor befinden sollten als Ministranten und Zelebranten im Altarraum.

Edith (beginnt zu verstehen): Ach so … (Sie zieht die Luft ein.)

Richard: Mhmmm! Den Jugendchor gibt es in Wundersdorf gar nicht mehr …

Edith: Nein?

Richard: Nö. Nicht daß ich wüßte. Ist wieder eingeschlafen, nachdem vor zwei Jahren alle so hoffnungsvoll bereit standen.

Edith: Und wenn der Kinderchor auftritt, sind mehr Leute im Altarraum als im Chor.

Richard: Unbestreitbar. Hier. Sie haben sich einen Zahlenschlüssel überlegt. (Er schiebt ihr eine Tabelle im Querformat hin). Guck: „Pfarreien ohne Kantorenstelle“ – Wundersdorf. Da.

Edith: Oje! (Sie liest) Hä? (Sie liest weiter und fährt mit dem Finger eine Spalte entlang) Also irgendwie … (Sie liest weiter und guckt Richard schließlich an.)

Richard (beugt sich über den Tisch und fährt die jeweilige Spalte entlang): Sie gehen davon aus, daß Priester, Gemeindereferenten, die Gremienmitglieder etc. drei Ehrenamtler pro Jahr motivieren können, in den Chor zu kommen.

Edith: Ja. Das ist nicht zu viel verlangt.

Richard: Eben. Dann: Die Sänger bleiben im Durchschnitt fünf Jahre dabei.

Edith: Oh! Das ist aber sehr vorsichtig gerechnet – Edeltraut und Willi haben wir jetzt nach 40 Jahren Mitgliedschaft im Chor verabschiedet! (Sie holt sich ein Stück Marmorkuchen aus der Speisekammer.)

Richard: Naja – ich denke, sie wollten die Verantwortlichen nicht unter Druck setzen.

Edith: Also gut – im Schnitt fünf Jahre. Und dann?

Richard: Kommen wir für Wundersdorf auf eine Anzahl von insgesamt acht Verantwortlichen …

Edith: Wen zählen sie da alles dazu?

Richard: Priester, Gemeindereferenten und die Vorsitzenden der Gremien.

Edith (stellt sich einen Kuchenteller hin, beißt ein erstes Mal von ihrem Stück Kuchen ab und legt es auf den Teller): Ok.

Richard: Also 8×3 neue Sänger in jedem Jahr mal 5 Jahre Durchschnittsmitgliedschaft, macht 120 Sänger im Chor.

Edith (reißt die Augen auf, mit vollem Mund): Boah!

Richard: Eben! Und dann bilden sie einen Quotienten aus 120 machbaren und unsern 30 tatsächlichen Mitgliedern und kommen auf den Faktor 4.

Edith: Ok. Und beim Jugendchor? Da wird das mit dem Quotienten ja schwierig …

Richard: Wieso?

Edith: Na – wenn es den Chor gar nicht mehr gibt? Durch Null darf man nicht teilen. Kommt dann unendlich raus?

Richard: Nein. Sie nehmen eine Grundanzahl von drei Sängerinnen und Sängern an.

Edith: Aha! Und wie kommen sie darauf?

Richard: Keine Ahnung! Wahrscheinlich können sie sich nicht vorstellen, daß es wirklich niemanden gibt …

Edith: … Ah ja!

Richard: Also, bei Jugendlichen gehen sie von der Zahl der Firmlinge aus, bei 40 pro Jahrgang könnte man fünf pro Jahr gewinnen, die dann 10.-12. Klasse dabeibleiben, macht drei Jahre, also ein 15köpfiger Chor.

Edith: Damit könnte man schon was anfangen!

Richard: Genau. Ein schöner kleiner Kammerchor. Der Quotient von 15 und den erfundenen drei Mitgliedern macht 5.

Edith: Jau. (Sie beißt in ihren Kuchen.)

Richard (zeigt auf die nächste Spalte): Kinderchor: 40 Erstkommunionkinder, fünf pro Jahrgang für den Chor gewinnen, die bleiben aber von der 4. Klasse bis einschließlich 9. Klasse, insgesamt also sechs Jahre dabei, macht 5×6=30. Geteilt durch die sechs Kinder, die wir tatsächlich regulär haben kommt ein Quotient von ebenfalls 5 raus. Die drei ermittelten Zahlen multiplizieren sie und kommen auf 4x5x5=100 Jahre, so daß unser Potential an Chormitgliedern derzeit also bis 2117 ausreicht, falls sich nicht dramatisch etwas tut.

Edith: 2117. Ja – und? Sie hatten für 2017 den Pfarrei-Erschöpfungstag aber auf das Jahr 2183 berechnet. 66 Jahre mehr.

Richard: Klar. Es geht ja auch mit den Instrumentalisten noch weiter. Die Berufsmusiker …

Edith (hält sich kurz die Ohren zu): Komm! Ich hab‘s begriffen! Laß uns über was anderes reden!

 

ENDE

 

Cornelie Becker-Lamers, Weimar

 

Ja, so geht’s zu in Wundersdorf! Bloß gut, daß der Weimarer Jugendchor mit dem Dienstag jetzt einen Probentag gefunden hat, der im neuen Schuljahr allen paßt, so daß die tapferen drei (?) Mitglieder sich weiterhin treffen können.

Ein Trackback/Pingback

  1. Pulchra ut Luna › Sketch des Monats: Der Kantorennachwuchs on Sonntag, 8. September 2019 um 21:02

    […] Manchmal werden unsere Satiren ja von der Realität eingeholt und bleiben dahinter zurück. Diesmal haben wir die Sache ein bißchen zugespitzt, um das Problem deutlich zu machen. Denn zum Glück hat Weimar ja außer den guten altgedienten Kantoren seine berühmten WWF (Winzigen Weimarer Freundeskreise). Und da findet sich denn auch unter den Kantoren über kurz oder lang jemand, der jemanden kennt, der jemanden kennt. Und so wird es denn mit Gottes (und Gothes) Hilfe vielleicht schon nach den Herbstferien etwas werden, mit der Schulung. Und dann vielleicht auch mit den jugendlichen Nachwuchssängerinnen und -sängern. Eine einzelne tapfere Newcomerin haben wir bis dahin schon mal dingfest gemacht. Aber sie sollte im Kantorendienst nicht allein in ihrer Generation bleiben! […]

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