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„all Deiner Kinder hohen Lobgesang“ – Teil 2

„all Deiner Kinder hohen Lobgesang“ – Teil 2

Zur Verteidigung eines Gedichtes gegen seine Vertonung

 

Es geht langsam. Weil auch ich nach der Grippe Ende Januar immer noch nicht wieder ganz auf den Beinen bin. So kommt es, daß Freunde via Email oder Kommentarfunktion schon sehr sehr kluge Beiträge zum aktuellen PuLa-Text über Bonhoeffers „Von guten Mächten treu und still umgeben“ beigesteuert haben, bevor ich weiterschreiben und inhaltlich zum Thema Vertonungen überhaupt richtig loslegen konnte.

Aber heute geht’s weiter. Zunächst einmal mit der Reaktion auf die beiden Kommentare von Monticola, dessen „close reading“ ihn zu der Überzeugung führt, daß mit den guten Mächten „die positiven Familienerfahrungen“ beschrieben werden, „die die Fähigkeit, sich geborgen fühlen zu können, überhaupt erst begründen“.

Hier erst nochmal der Text des Autographs, den brauchen wir nämlich gleich wirklich genau:

  1. Von guten Mächten treu und still umgeben,/ behütet und getröstet wunderbar,/ so will ich diese Tage mit euch leben/ und mit euch gehen in ein neues Jahr.
  2. Noch will das Alte unsre Herzen quälen,/ noch drückt uns böser Tage schwere Last./ Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen/ das Heil, für das Du uns geschaffen hast.
  3. Und reichst Du uns den schweren Kelch, den bittern/ des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,/ so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern/ aus Deiner guten und geliebten Hand.
  4. Doch willst Du uns noch einmal Freude schenken/ an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,/ dann woll‘n wir des Vergangenen gedenken,/ und dann gehört Dir unser Leben ganz.
  5. Laß warm und hell[8] die Kerzen heute flammen,/die Du in unsre Dunkelheit gebracht,/ führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen./ Wir wissen es, Dein Licht scheint in der Nacht.
  6. Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,/ so laß uns hören jenen vollen Klang/ der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,/ all Deiner Kinder hohen Lobgesang.
  7. Von guten Mächten wunderbar geborgen,/ erwarten wir getrost, was kommen mag./ Gott ist bei uns am Abend und am Morgen/ und ganz gewiß an jedem neuen Tag.

(Dietrich Bonhoeffer)

Analog der hierarchisch gegliederten Gemeinschaft der Heiligen, die uns als „unsichtbare Welt“ umgibt, entwirft Bonhoeffer Monticola zufolge in seinem Gedicht „seine persönliche unsichtbare Welt […], in der sämtliche positiven zwischenmenschlichen Beziehungen (‚Du, die Eltern, Ihr alle, die Freunde und Schüler im Feld‘) in ebenfalls hierarchischer Ordnung präsentiert werden.“  Zur Untermauerung zieht Monticola Formulierungen des Brieftextes heran, in welchen Bonhoeffer die ihn im Gefängnis tragenden familiären und freundschaftlichen Beziehungen als „großes unsichtbares Reich“ bezeichnet. Er kommt zu dem sehr schönen Schluß: „Das ist kein ‚Engellied‘, sondern ein ‚Familienlied‘“ und vermutet: „Es handelt sich hierbei nämlich um ein sehr privates Weihnachtsgedicht, das in erster Linie die persönlichen bzw. bürgerlich-familiären Aspekte des Weihnachtsfests besingt. Hinzu tritt der Gebetscharakter durch die Einbeziehung des göttlichen Du. Nicht beabsichtigt war es, ein theologisch durchgearbeitetes Kirchenlied zu verfassen. Daß es in rauschhafter Besoffenheit zu einem solchen wurde, wäre dem Verfasser, so er noch lebte, vermutlich überaus unangenehm.“

Soweit Monticola.

Wunderbar!

Für seine Einschätzung, das Gedicht sei nicht zur Vertonung bestimmt gewesen, findet Monticola Rückendeckung bei Jürgen Henkys. In dessen von uns bereits zitiertem Artikel zu „Von guten Mächten“ im „Geistlichen Wunderhorn“  heißt es nach einigen Bemerkungen zur Metrik von Bonhoeffers Gedicht: „[I]n der [Bonhoeffer] vertrauten evangelischen Gesangbuchdichtung dürfte es keine Melodie gegeben haben, die ihn bei seinen Strophen begleitet hat. […] So hat man damit zu rechnen, daß hier ein privates Gedicht, ein persönlich adressierter Weihnachts- und Neujahrswunsch, [durch nachträgliche Vertonungen] ins Gesangbuch gekommen ist.“ (ebd. S. 455). Der „Einklang von Biographie und Theologie“ Dietrich Bonhoeffers bilde dabei überhaupt die Grundlage dafür, daß eine Gedichtinterpretation „beiden Sachverhalten gerecht werden [könne]: der Privatheit dieser Strophen und der ihnen gleichwohl eignenden Übertragbarkeit und Allgemeinheit.“ (ebd.)

Obwohl Henkys die „Privatheit dieser Strophen“ hervorhebt, ist ihm ebender Briefausschnitt, dem Monticola die Deutung der „guten Mächte“ als „positive Familienerfahrungen“ abliest, ein Nachweis für seine Interpretation als „Engellied“. Henkys weiß, daß Bonhoeffer sich in der Haftzeit intensiv mit den Psalmen beschäftigt hat und erkennt daher in dessen Gedicht Formulierungen, die „die biblische Rede dem Wirken Gottes durch Engel vorbehält.“ In den beiden Eingangsversen des Gedichts findet er bewußte Anspielungen auf Ps 139,5: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir“ und Ps 91,1: „Er hat seinen Engeln befohlen, daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen“ (ebd. S. 456, Hervorhebungen durch Henkys).

So gut mir Monticolas These vom Familienlied gefällt, finde ich, daß Jürgen Henkys hier einen Punkt hat. Zumal ich – da Monticola ja ganz zu Recht auf Gott als lyrisches Du hingewiesen hat – die Strophen noch einmal auf die Frage hin anschauen möchte, wie hier direkte Ansprachen und Bitten einerseits und ein objektivierter Blick auf Gott andererseits alternieren: Auf das lyrische Du, groß geschrieben und in jedem Fall auf Gott den Herrn bezogen, treffen wir nur in den Binnenstrophen 2-6. Es steht neben dem klein geschriebenen lyrischen „euch/uns/wir“ der familiären und freundschaftlichen Beziehungen. Die Randstrophen 1 und 7 sind von einer objektivierten Außensicht auf die guten Mächte und Gott getragen. Deshalb lese ich das „euch“ in Strophe 1 letztlich doch nicht als Identifizierung der „guten Mächte“. Das „euch“ ist den guten Mächten vielmehr ebenfalls anvertraut und von ihnen unterschieden.

Ich tendiere also doch zur Engelliedthese von Jürgen Henkys und habe mich entschlossen, in diesem Sinne auch die sechste Strophe zu verstehen: „Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,/ so laß uns hören jenen vollen Klang/ der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,/ all Deiner Kinder hohen Lobgesang.“

[Nebenbei bemerkt: Bonhoeffer, mit den Psalmen vertraut, wird auch hier einen Vers im Kopf gehabt haben: Psalm 4, 2 […] „in tribulatione dilatasti mihi“, „in der Bedrängnis hast Du mich ins Weite geführt“ GL]

Das Gedicht ist gesättigt von Todesahnung. Daß ich „die Stille“ beim Gemeindegesang in der Jahresschlußandacht daher ausschließlich mit dem Tod assoziiert habe, hatte allerdings vielleicht auch ein bißchen mit der hiesigen Christmette eine Woche zuvor zu tun, war die Weihnachtspredigt doch zu guten Teilen eher auf den Karfreitag zugeschnitten und entließ uns mit den Worten „leiden und sterben – so bringen wir Frieden“ in den Jubel der Heiligen Nacht. Wie auch immer – durch die Beschäftigung mit der Forschungsliteratur zu Bonhoeffers Gedicht weiß ich nun, daß man die Stille auch als die Stille des Gefängnisses deuten kann, die dem Häftling alle Freunde und Familienangehörigen intensiv vor Augen führt. Noch einmal Bonhoeffer: „[I]ch habe immer wieder die Erfahrung gemacht, je stiller es um mich herum geworden ist, desto deutlicher habe ich die Verbindung mit euch gespürt. Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen.“ (zit. nach Geistl. Wunderhorn, S. 456)

„Die Stille“ aus Strophe 6 also lediglich die Taubheit der unterirdischen Haftzellen, die bleierne Sprachlosigkeit der Wärter, die hypersensibilisierende Einsamkeit der Isolation? Die „unsichtbare Welt“ entsprechend die emotionalen Bindungen an Familie und Freunde?

Nein! Nein, ich glaube es nicht. Mögen sich die beiden ersten Verse der Strophe 5 auf das heimische und heimelige großbürgerliche Weihnachtsfest beziehen – im letzten Vers schlägt die Sprache ins Metaphorische um: „Wir wissen es, Dein Licht scheint in der Nacht“ – das ist bereits die Nacht des Todes, in der ihm, dem Aufrechten, ganz gewiß das Licht der ewigen Herrlichkeit aufleuchten wird. Und es ist – „führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen!“ – der Raum und die Zeit, in der wir mit all unseren Lieben vereint zu werden hoffen dürfen. „Die Stille“ aus Strophe 6 – das ist die Stille des Todes, in der der „volle Klang“ der unsichtbaren Welt, der Lobgesang der göttlichen Kinder den Hörenden als das „Heilig heilig heilig“ der Engel umfängt.

 

Cornelie Becker-Lamers

 

Fortsetzung folgt

 

 

 

5 Kommentare

  1. monticola schrieb:

    Dadurch daß der Rahmen des Gedichts aus dem allgemeinen Glaubensgut genommen wird — was verständlich und legitim ist –, erhält das Gedicht eine beabsichtigte und ebenfalls legitime
    Doppeldeutigkeit. Auf diese Doppeldeutigkeit kann man reinfallen.

    “ […] Deshalb lese ich das „euch“ in Strophe 1 letztlich doch nicht als
    Identifizierung der „guten Mächte“. Das „euch“ ist den guten Mächten
    vielmehr ebenfalls anvertraut und von ihnen unterschieden.“

    Muß nicht der Ausgangspunkt der Interpretation von Strophe 1 die sehr erstaunliche
    Ankündigung sein:
    „Ich will mit euch diese [weihnachtlichen] Tage leben und mit euch in das neue Jahr gehen.“
    Wie aber soll das geschehen, da doch die Mauern dicht sind?
    Antwort des Briefs: „Euch“ sei gar nicht draußen. „Euch“ sei unsichtbar unbezweifelbar
    immer gegenwärtig, lebendig, wirklich und real. Solche unsichtbaren guten Mächte
    bräuchten „heute“(!) nicht nur Kinder sondern auch die Erwachsenen.
    Seit wann ist das allgemeine Glaubensgut vom „heute“ abhängig?

    (Etwas pointierter ist da das „Schlaflied“ in der Übertragung von Selma Meerbaum-Eisinger,
    in dem es heißt: „Kleine Kinder schlafen schon, große muß man wiegen.“
    http://bit.ly/2knx8Rc )

    Mittwoch, 8. Februar 2017 um 22:21 | Permalink
  2. monticola schrieb:

    6. Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,/ so laß uns hören jenen vollen Klang/
    der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,/ all Deiner Kinder hohen Lobgesang.

    Einige Anmerkungen zu Strophe 6:

    1. Stille um uns
    Spätestens seit dem Heiden Goethe ist „Stille“ in der deutschen Literatur allgemein
    als Metapher für den Tod bekannt. Ob sie sich dafür so gut eignet? Tod ist statisch,
    Stille aber impliziert die Möglichkeit ihres Gegenteils, nur Gefühle sind „tief“ oder
    „flach“. „Sich ausbreiten“ tut das Leben, und „sich weiten“ erinnert mehr an den Schrei
    des Neugeborenen als an den letzten Atemzug. Nun könnte man einwenden, daß das alles
    ja für die nicht gelten müsse, die meinen, daß es nach dem Tod weitergehe, und dazu
    gehöre nicht nur der Heide Goethe, sondern auch der Christ Bonhoeffer. Das ist richtig,
    und so ist der Tod eine mögliche Bedeutungsebene von Strophe 6.
    Ein gewisses Gegenargument bleibt freilich das Wörtchen „uns“. Kollektiver Suizid
    war ja nun, — anders als bei Jochen Klepper –, keine Option.

    2. Stille und Gebet
    Aus religiöser Perspektive wird man kaum bestreiten können, daß das Gebet der Versuch
    der Kontaktaufnahme mit einer unsichtbaren Welt ist. Dem Christen Bonhoeffer war bei
    der Theologenausbildung in Finkenwalde Stundengebet und Meditation wichtig. Nimmt man
    sich hierfür morgens oder nachts Zeit, dann ist es „tief still“. Als in der Regel
    singuläres, gnadenhaftes Ausnahmeerlebnis wird dabei gelegentlich die „Erfahrung“ der
    unsichtbaren Welt Gottes beschrieben, in dem der „volle Klang“ des uns sonst unhörbaren
    himmlischen Lobgesangs wahrnehmbar werde. Während die „guten Mächte“ bisher ambivalent
    waren, weil eine innerweltliche, psychologische Komponente, nämlich die positiven
    Familienerfahrungen, ihren Anknüpfungspunkt bildeten, wendet Strophe 6 dies nun ins rein
    geistliche.

    3. Gemeinschaft der Heiligen
    Als Protestant weiß Bonhoeffer, daß alle Christen Heilige sind. Das gilt natürlich auch
    für seine Familie, um die es ihm bei der Abfassung eigentlich geht. Aber natürlich kann
    sich seine Befassung mit der Familie (wie sein Schreiben insgesamt) nicht vom Gesamtkontext
    des christlichen Glaubens lösen. Deshalb hat Strophe 6 die Funktion, — katholisch
    gesprochen –, die Hauskirche der Bonhoeffers auf die Universalkirche zu verweisen.
    Die Gemeinschaft der Heiligen ist lokal und real, aber sie weist über sich hinaus auf
    die Kirche aller Zeiten.

    4. Leerstelle
    Es gibt in diesem Gedicht meiner persönlichen Meinung nach eine Leerstelle, vielleicht
    das, was Jaspers mit der conditio humana meinte. Es ist verständlich, daß Bonhoeffer
    seiner Frau nichts vorjammern will, aber dadurch erhält das gesamte abgespulte Programm
    eine gewisse Unmenschlichkeit, die freilich erst stört, wenn man es nicht nur zum
    Kirchenlied, sondern sogar zum „zentralen Liedgut“ macht.
    Bitterer Kelch — kein Problem — kippen wir runter.
    Freude schenken — noch besser — wir gehören dir ganz.
    Dunkelheit — ist doch wurscht — dein Licht brennt ja.
    Die einzige Strophe, die negative persönliche Empfindungen zuläßt, ist Nr. 2,
    und das strenggenommen nur in dem Adjektiv „aufgeschreckt“.
    Die Fietzsche Fassung treibt das dann auf die Spitze bzw. ins Unerträgliche.

    Donnerstag, 9. Februar 2017 um 15:56 | Permalink
  3. monticola schrieb:

    2. Noch will das Alte unsre Herzen quälen,/ noch drückt uns böser Tage schwere Last./
    Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen/ das Heil, für das Du uns geschaffen hast.

    Anmerkungen zu Strophe 2

    Im vorigen Kommentar schrieb ich:

    Die einzige Strophe, die negative persönliche Empfindungen zuläßt, ist Nr. 2,
    und das strenggenommen nur in dem Adjektiv „aufgeschreckt“.

    Das soll jetzt noch begründet werden.
    Strophe 2 beschreibt in gewisser Weise die äußeren Umstände bzw. die gegenwärtige Situation.
    Dabei ist klar, daß Bonhoeffer die Adressaten nicht durch politisch zu deutende
    Aussagen gefährden darf. Dementsprechend ist die Gegenüberstellung von „das Alte“
    und „das Heil“ auch genuin geistlich: Der alte Adam hier, das Heil im neuen Adam dort.
    Hier soll es aber um die Äußerungen seelischen Empfindens gehen.
    1. Das Alte will quälen.
    Gequält sein ist eine genuin seelische Empfindung, aber hier ist nicht klar,
    ob das überhaupt gelingt und das Alte sein Ziel erreicht. Es bleibt offen, ob der
    zu Quälende sich denn überhaupt quälen läßt. Sollte dies der Fall sein, so schließt
    die Formulierung die Nachfrage nicht aus, ob das Opfer es denn nicht hätte vermeiden
    können, gequält zu sein. Es bleibt eine Option, das Opfer selbst dafür verantwortlich
    oder zumindest mitverantwortlich zu machen, gequält zu sein, nach dem Motto:
    Zum Quälen gehören immer zwei.
    2. Es drückt uns böser Tage schwere Last
    Diese Formulierung liegt schon eher in einem Graubereich. Grundsätzlich ist das
    Drücken schwerer Lasten keine seelische, sondern eine körperliche Empfindung.
    Dennoch liegt es nahe, darin eine metaphorische Verwendung zu sehen, die auf
    seelische Empfindungen zielt. Das Problem ist, daß nicht klar wird, welche
    seelische Empfindung denn nun genau gemeint sein könnte: Depression wegen „drücken“,
    Angst, Verzweiflung, Niedergeschlagenheit, Verzagtheit? Der Leser kann sich
    etwas denken, muß es aber nicht. Denn natürlich gibt es schwere Zeiten, die
    „irgendwie drücken“, ohne daß dies zu den oben exemplarisch aufgeführten
    seelischen Empfindungen führen müßte. Auch hier stellt sich die Frage nach der
    Resilienz des einzelnen.
    3. Unsere aufgeschreckte Seelen
    Zu erschrecken ist nun sicher eine seelische Empfindung. Insofern werden wir hier
    fündig. Allerdings ist Erschrecken eine besonders primäre, „vorrationale“ Empfindung
    (natürlich gibt es keine propositionalen Empfindungen, aber es gibt Empfindungen,
    die sich nach einer entsprechenden Reflexion eher halten als andere).
    Das ist hier doch sehr erstaunlich, denn immerhin hatte Bonhoeffer ja genug Zeit
    zum Nachdenken. Meiner persönlichen Meinung nach erscheint es sogar kaum glaubhaft.
    Insofern hat die Erwähnung des „Erschreckens“ hier eher den Zweck, keine
    differenziertere, gesetztere, reflektiertere Aussage über den eigenen Seelenzustand
    machen zu müssen. Das ist ja aber auch nicht nötig, denn wie wir wissen behaupten
    Gedicht und Brief ja die jederzeitige Geborgenheit durch gute Mächte. Da kann man sich ja eigentlich gar nicht erschrecken,oder?

    Donnerstag, 9. Februar 2017 um 22:25 | Permalink
  4. monticola schrieb:

    Schlußbemerkung

    Der „Einklang von Biographie und Theologie“ Dietrich Bonhoeffers bilde dabei überhaupt die Grundlage dafür, daß eine Gedichtinterpretation „beiden Sachverhalten gerecht werden [könne]: der Privatheit dieser Strophen und der ihnen gleichwohl eignenden Übertragbarkeit und Allgemeinheit.“ (ebd.)

    Der Autor der oben referierten Aussage muß wohl irgendein Problem gesehen haben. Und in der Tat
    stellt der obige Satz den Versuch einer Rechtfertigung der Rezeption des Gedichts als Kirchenlied dar.
    Die diesbezügliche Geeignetheit und allgemeine Gültigkeit wird mit dem „Einklang von Biographie und
    Theologie“ begründet, womit wohl eigentlich die Übereinstimmung von Leben und Lehre gemeint ist.
    Weiter wird das Attribut „Privatheit“ dem Leben, die „Allgemeinheit“ (besser: Allgemeingültigkeit) hingegen der Lehre zugeordnet. Mit letzterem habe ich nun wirklich kein Problem: Freilich, die Lehre muß für alle gelten. Dumm nur, daß in diesem Gedicht weder „Theologie“ noch Lehre enthalten sind.
    Was die „Privatheit“ des Lebens angeht, so bin ich mir da gar nicht sicher. Jedenfalls ist das Leben
    dann nicht privat, wenn es als vorbildhaft respektive heiligmäßig vorgestellt werden soll.
    Im übrigen würden die in einem lehrmäßig oder geistlich vorbildhaften Gedicht enthaltenen christlichen
    Wahrheiten nicht durch den verwerflichen Lebenswandel seines Autors entwertet. Hier wird also
    nicht nur ein Papiertiger aufgebaut und abgefackelt, sondern hier wird die im Gedicht vorhandene
    Melange von privat und allgemein a priori für sakrosankt erklärt. Aus einem möglichen „fault“ für die
    Rezeption als Kirchenlied wird so ein „feature“.

    Um das vorweg klarzustellen: Ich bin ein wirklich großer Freund frommen protestantischen Liedguts.
    Aber dieses Gedicht unterscheidet sich als privates Familienlied davon in einer nicht einfach zu
    fassenden Weise, die vielleicht am ehesten im „Wir“ kumuliert. Gerne übe ich Vertrauen ein, indem ich mir Menschen voll Gottvertrauens zum Vorbild nehme. Das ist dann aber *meine* Entscheidung. Das „Wir“
    hier ist demgegenüber, — in seiner Rezeption als Kirchenlied –, normsetzend. Es mag ja sein,
    daß der Autor seine Leute so gut kennt, daß er weiß, daß sie im Gegensatz zu Jesus Christus
    den „bitteren Kelch“ ohne „Zittern und Zagen“ aus des Vaters guten und geliebten Hand annehmen werden.
    Angesichts dessen, daß Jesus Christus dabei aber selbst zitterte und zagte (Mk. 14,33), und eingedenk meiner eigenen Unzulänglichkeit, habe ich nicht vor, mir diese unbiblische Hyperfrömmigkeit zu eigen zu
    machen, und zwar schon deshalb nicht, weil ich weiß, daß für die damit verbundene psychologische
    Verdrängungsleistung irgendjemand würde bezahlen müssen. Würde da „ich“ stehen, dann wäre mir diese
    Wahl auch tatsächlich freigestellt. Sowohl das Glaubenszeugnis als auch die Glaubensentscheidung erfordern das „Ich“.
    Da es mir ja nicht um Bonhoeffer geht, sondern um die Rezeption des Gedichts, können wir natürlich stattdessen auch irgendeine mainstreamige Aussage wie die folgende betrachten:
    „Als Christen brauchen wir uns nicht zu fürchten.“ Mag schon sein. Aber ich lege Wert
    darauf, daß wir uns fürchten *dürfen*, und weiter, daß wir uns fürchten *werden*, weil wir Menschen
    sind, freilich der eine etwas mehr, der andere etwas weniger.
    Wenn sich dann jemand hinstellt und sagt: „Ich bin Christ und fürchte micht nicht.“, bitte, dann ist
    das sein persönliches Glaubenszeugnis aber keine allgemeine ethische Norm, die sich die Allgemeinheit
    auf eine schunkelige, primitive, bekiffte Hippiemelodie zu singen wünscht.

    Sonntag, 12. Februar 2017 um 17:36 | Permalink
  5. monticola schrieb:

    Der von mir zuletzt gewählte Ansatzpunkt einer Kritik der Rezeption des
    Bonhoeffergedichts als Kirchenlied war das lyrische „Wir“.

    1. „Wir“, die Familie
    Kehrseite des Texts als privates Familiengedicht ist die ungewöhnlich
    schwache Verankerung in der heiligen Schrift. Die gewählten Bezüge
    erscheinen erratisch und teilweise contra scripturam („bitterer Kelch —
    ohne Zittern und Zagen“). Mit der Geborgenheit durch gute Mächte familiärer
    Erinnerungen und Erfahrungen steht ein massiv psychologisch aufgeladenes
    Moment im Mittelpunkt, daß sich wenn überhaupt nur um den Preis milieuartiger
    Verengung und damit letztlich der Aufgabe des universalen Sendungsauftrags
    der Kirche verallgemeinern läßt, wenngleich es für den letztgenannten
    Zusammenhang weitaus bessere, schwerwiegendere und weniger subtile Beispiele gäbe.

    2. „Wir“, die Kirche
    Es wäre zu ermitteln, wo das christliche Liedgut vom „Wir“ und wo es vom „Ich“
    spricht. Üblicherweise dürfte das „Wir“ einen gemeinsamen gemeindlichen Vollzug,
    in der Regel in Form gottesdienstlicher Feier, voraussetzen. Typische Beispiele
    dürften Freude, Lob, Dank, Tanz (man denke auch ans Judentum), Bitte und Fürbitte
    sein, teilweise konkret verknüpft mit der Feier kirchlicher Feste.
    Warum das so ist?
    „In der irdischen Liturgie nehmen wir vorauskostend an jener himmlischen Liturgie
    teil, die in der heiligen Stadt Jerusalem gefeiert wird, zu der wir pilgernd unterwegs
    sind, wo Christus sitzt zur Rechten Gottes, der Diener des Heiligtums und des wahren Zeltes.
    In der irdischen Liturgie singen wir dem Herrn mit der ganzen Schar des himmlischen Heeres
    den Lobgesang der Herrlichkeit. In ihr verehren wir das Gedächtnis der Heiligen und erhoffen
    Anteil und Gemeinschaft mit ihnen. In ihr erwarten wir den Erlöser, unseren Herrn Jesus
    Christus, bis er erscheint als unser Leben und wir mit ihm erscheinen in Herrlichkeit
    (SC Nr. 8).“
    Schon bei der Anbetung steht aber das „Adorate fideles“ gegen „Ich bete an die Macht der Liebe“.
    Keiner vergleichbaren „Feierpraxis“ gehören üblicherweise Krankheit, Leid, Sterben,
    sich ängstigen, sich fürchten, aber auch sich geborgen fühlen, glücklich oder unglücklich
    sein, an. Das sind zwar wichtige Gesichtspunkte und Herausforderungen im individuellen
    Leben. Sie sind aber im Gegensatz zur Liturgie weder normiert noch normierbar.
    Hier wie in anderen praktischen Lebensfragen ist das individuelle Glaubenszeugnis und
    die individuelle Glaubensentscheidung gefragt. Ob sich jemand geborgen fühlt oder nicht,
    ob er zittert und zagt oder nicht, ist schlichtweg eine Funktion des aktuellen
    Gemütszustands. Ganz anders ist das mit loben und danken. *Das* kann ich im Prinzip
    auch, wenn’s mir schlechtgeht. Vorausgesetzt, ich habe es schon vorher geübt.
    Einen Gemütszustand aber durch das „Wir“ zu normieren und einzufordern ist schlichtweg lächerlich.
    Sollten Sie anderer Meinung sein, dann sind Sie hier richtig:

    https://www.youtube.com/watch?v=d-diB65scQU

    Be happy now!

    Montag, 13. Februar 2017 um 02:34 | Permalink

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  1. […] auf den (vorerst! ? ) letzten Kommentar von ‚Monticola‘ hingewiesen, Nr. 5, den Sie hier, unter dem Beitrag vom 8. Februar […]

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