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Sketch des Monats: Der Geheimtip

Wie konnte das passieren?
Wie konnte und wie kann es so weit kommen, daß in einer Gemeinschaft Verbundene, die an einem Strang ziehen sollten, in Parteien zerfallen, von denen eine die andere zum Gegner macht und geheimniskrämert in dem irrigen Glauben, auf alle anderen nicht angewiesen zu sein?

Überall in Deutschland schüttelt man ungläubig den Kopf anläßlich der Aktivitäten der US-amerikanischen Geheimdienste, die das in den internationalen Beziehungen zustande gebracht haben, zu unser aller Nachteil.

Überall in Deutschland? Nein. In der uns wohlvertrauten Diasporagemeinde Wundersdorf/Oderbruch erzählt man sich, wie alles kam:

 

Sketch des Monats: Der Geheimtip

Ein Sketch für vier Personen und beliebig viele Statisten

 

Sommer 2007. Ein brütendheißer Tag Mitte Juli. Am Baltimore-Washington International Airport verläßt ein unauffälliger junger Mann unauffällig sein Linienflugzeug und läßt sich unauffällig vom Strom der Reisenden Richtung Ausgang schieben. An der Gepäckförderanlage wartet er unauffällig auf seinen unauffälligen Koffer und geht dann zielstrebig, aber ohne Hast zum Taxistand vor dem Flughafen. Er erreicht das erste Taxi der Reihe, öffnet die hintere rechte Tür und setzt sich mit einem kurzen Gruß auf den Rücksitz.

Der Taxifahrer (hat sich nach dem Fahrgast umgedreht): Hello, man! Gosh! Was für ein Wetter hast du mitgebracht, Junge! Wo soll‘s denn hingehen?

Der junge Mann (unauffällig): Fort Mead.

Der Taxifahrer (läßt den Motor an): Ou! Zum Geheimdienst! Dann werde ich mal lieber den Mund halten – ihr Burschen seid ja immer im Dienst. (Er lacht.)

(Der junge Mann schaut aus dem Fenster und schweigt.)

Der Taxifahrer (jovial): Komm schon, Junge, nimm’s mir nicht übel! Ich wollte doch nur einen Spaß machen!

(Der junge Mann schaut auf seine Fingernägel und schweigt.)

Der Taxifahrer: Weißt du, wie öde das ist: immer nur im Auto sitzen und die Leute durch die Gegend kutschieren (ruft plötzlich laut) – paß doch auf, Mann – (er blickt mißmutig aus der Seitenscheibe nach einem anderen Fahrzeug). Wenn man sich da nicht ein bißchen unterhält, wird man völlig rammdösig. (ruft) Heyheyhey! So fährt man in Venedig! (Er weicht einem anderen Fahrzeug aus.) Aber mit dem Boot! (Er lacht.)

(Der junge Mann checkt seine Handymailbox und schweigt.)

Der Taxifahrer (erklärend): Die Hitze macht die Leute völlig verrückt!

(Pause. Der Taxifahrer beginnt ein kleines Liedchen zu pfeifen und beobachtet seinen stummen Fahrgast im Rückspiegel. Nach einer Weile)

Der Taxifahrer: Besonders gesprächig scheinst du ja wirklich nicht zu sein. Naja – umsonst nimmt man diesen Job ja auch nicht an. Meine Mutter pflegte zu sagen …

(Bevor wir erfahren, was die Mutter des Taxifahrers zu sagen pflegte, verlassen wir die beiden und begegnen dem jungen Mann erst wieder, als er in der perfekt klimatisierten obersten Etage des Hauptgebäudes des nationalen Sicherheitsdienstes der Vereinigten Staaten aus dem Fahrstuhl tritt. Ein Sicherheitsbeamter empfängt ihn.)

Der Sicherheitsbeamte: Guten Tag, Sir. Der Commander erwartet Sie bereits, Sir. Wenn ich vorausgehen darf, Sir.

(Im Gefolge des Sicherheitsbeamten durchmißt der junge Mann einen schier endlosen Flur und wird dann nach kurzem Klopfen in einen abgedunkelten Büroraum vorgelassen. Am Kopf eines langen ovalen Besprechungstisches sitzt ein Mann in der Uniform eines ranghohen Offiziers.)

Der Commander: Guten Abend, Malcolm! Wie war Ihr Flug?

Der junge Mann: Guten Abend, Commander. Danke. Alles in Ordnung.

Der Commander: Was ist so wichtig, daß Sie in so kurzer Zeit einen Gesprächstermin auf unserer Etage erstritten haben? (Er lächelt anerkennend, reicht dem jungen Mann die Hand und deutet mit einer einladenden Bewegung auf einen der leeren Stühle an seiner Seite.)

Der junge Mann (setzt sich, verschränkt die Hände und stützt die Unterarme auf den Tisch): Ich habe eine Nachricht von größter Wichtigkeit, Commander. Alle Welt weiß, daß unser Sicherheitsdienst im Wettlauf mit der Revolution in der Telekommunikation immer wieder ins Schwitzen gerät.

(Der Commander räuspert sich.)

Der junge Mann: Es steht seit Jahren sogar in ausländischen Presseerzeugnissen. Wir haben keine Zeit zu verlieren.

Der Commander (sachlich): Was ist Ihr Vorschlag?

Der junge Mann: Mein kleiner Bruder kommt gerade von einem Schüleraustausch in Mitteldeutschland zurück.

Der Commander (mit feinem Lächeln): Das wissen wir… Und?

Der junge Mann: Über seine Gastfamilie geriet er dort in eine kleine katholische Diasporagemeinde, von deren Herrschaftsstrukturen wir uns eine Scheibe abschneiden können. – Er ist froh, wieder hier zu sein.

(Der Commander zieht eine Augenbraue nach oben.)

Der junge Mann: Ich meine nicht etwa die Strukturen der kirchlichen Hierarchie. Deren Autorität wird dort kaum und wenn, dann nur sehr asymmetrisch spürbar. Nein: Offenbar ist eine Einzelperson, ehrenamtlich tätig, für die drückende Atmosphäre der Angst und des Duckmäusertums unter den Gemeindemitgliedern verantwortlich. Sie hat ein System von Bespitzelung und Ausgrenzung aufgebaut, in dem mit willkürlich zugedachten Häppchen der Zuwendung in Form kleiner abverlangter Dienste belohnt wird.

Der Commander (spielt mit einem Kugelschreiber): Mit den Methoden geheimdienstlicher Tätigkeit in den sozialistischen Ländern haben wir uns vor 50, 60 Jahren auseinandergesetzt. Daß sie auch nach dem Fall der Mauer in gesellschaftlichen Nischen überdauern können, ist nichts Besonderes. Sonst noch was?

Der junge Mann (fährt in seinem Bericht fort): Statt nur auf die zurechtgemachten Berichte der Gemeindemitglieder zu warten, hat sie sich Zugang zum Emailpostfach des Pfarrers verschafft.

(Der Commander beugt sich nach vorne und blickt den jungen Mann überrascht und interessiert an.)

Der junge Mann: So erfährt sie von Ideen, möglichen Aktionen, aber auch von inneren Nöten der Menschen meist bevor sie sich in den Freundeskreisen der Gemeinde herumgesprochen haben und kann durch prophylaktisches Schlechtreden vieles im Keim ersticken.

Der Commander (lehnt sich wieder zurück und rekapituliert, ernst): Bemerkenswert! Der Pfarrer – der Priester! – hat eine Emailadresse …

Der junge Mann: …die um so häufiger frequentiert werden wird, als er sowohl die Haushälterin als auch einen persönlich besprochenen Anrufbeantworter eingespart hat …

Der Commander (beginnt zu lächeln): … und der die Gläubigen voll Vertrauen auf seine Schweigepflicht ihre persönlichsten Anliegen anvertrauen. (Er sieht dem jungen Mann in die Augen.) Und diese Emails werden von höchst unberufenem Auge mitgelesen …

Der junge Mann (zufrieden mit der Wirkung seiner Erzählung): … und zwar nicht nur sporadisch, das war von verschiedenen Zeitabläufen her nachweisbar. – Doch damit nicht genug, Commander. Dieselbe Person überwacht obendrein auch den Emailverkehr des Pfarrbüros, des Sekretariats und der diversen Gremien …

Der Commander: … was ihr ein vollständiges Bild der offiziellen und inoffiziellen Fragen in der Gemeinde verschafft: Voraussetzung ihrer absoluten Herrschaft … großer Gott, Malcolm! (Er gerät mehr und mehr in Begeisterung) Stellen Sie sich vor: Alle diese Emails werden ja gespeichert und ausgewertet. Das heißt, mit Suchalgorithmen könnte man nach Stichworten und Personennamen suchen, Netzwerke aufdecken, Biographien rekonstruieren … – (plötzlich ernst) Aber sagen Sie: Was hat sie enttarnt?

Der junge Mann: Wen? Diese Person?

Der Commander: Ja. Sie sprachen von Zeitabläufen, die ihren direkten Zugriff auf das Emailpostfach beispielsweise des Pfarrers nahelegten.

Der junge Mann: Sie hat von ihrem eigenen Postfach aus auf die Emails geantwortet.

(Der Commander legt den Kopf auf die Unterarme und stöhnt.)

Der junge Mann (belustigt): Ja, sie hat einige dieser Emails selber beantwortet und in ihrem Aktionismus häufig so rasch, daß es nicht durch ein Delegieren seitens eines überarbeiteten Geistlichen, sondern nur durch ihren direkten Zugriff auf das Postfach des Priesters erklärlich ist. So erfahren die Gemeindemitglieder jetzt langsam aber sicher von der Struktur, was das System letztlich unbrauchbar macht.

Der Commander (wieder aufblickend): Ok. Ich dachte schon, wir könnten sie engagieren.

Der junge Mann: Oh nein! Um Himmels Willen! Sie funktioniert nur in dem winzigen, nach außen abgeschirmten Raum dieser Diasporagemeinde, wo Satzungen und Kirchenrecht nicht das Schwarze unterm Fingernagel wert sind.

Der Commander (sinniert): In einer christlichen Gemeinde! Eigentlich undenkbar!

Der junge Mann (nickt): Wie Michael sagt: „Die Grundlage unserer Tätigkeit ist, genau das zu tun, von dem der Gegner annimmt, es sei unmöglich.“

Der Commander (erhebt sich und reicht dem jungen Mann die Hand): Ich danke Ihnen vielmals für diese Informationen, Malcolm! Sie werden von uns hören. Und wir, wir werden Geschichte schreiben, ohne daß die Geschichte überhaupt merkt, daß wir da sind!

 

ENDE

Cornelie Becker-Lamers, Weimar

Ja, so geht’s zu in Wundersdorf!
Bloß gut, daß in Weimar dem Pfarrgemeinderat seit einiger Zeit die E-Mail-Adresse vollends „abhanden gekommen“ ist (wenn auch nicht auf Initiative des PGR hin…)
Da kann ja sowas gar nicht erst passieren, oder?

Ein Trackback/Pingback

  1. Pulchra ut Luna › „also: Weimarer“ – Teil V on Dienstag, 10. November 2020 um 16:20

    […] eines Freundes. Eine ähnliche Beobachtung haben wir schon vor sechseinhalb Jahren in einem Sketch verarbeitet. Es stimmt: Die Bemühungen der „also: Weimarer“, zum „Wir sind doch unter uns“ […]

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