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Die Seite Eins, Ein Sketch zum Tag der Pressefreiheit (Vorabend)

Die Seite Eins

Ein Sketch für vier Personen

 

Wundersdorf, Oderbruch. In der Dienstwohnung von Hochwürden Conrad Kneif im katholischen Pfarrhaus. Im Wohnzimmer sitzen Corinna und der Regionalredakteur des Petershagener Boten.

Corinna: Unbedingt! Das muß morgen in der Zeitung stehen.

Der Redakteur: Corinna … Es ist Sonntagnachmittag um halb fünf. Das wird zu knapp. Die Kreisseiten müssen immer als erste fertig sein.

Corinna: Ich will auf Seite Eins!

Der Redakteur: Meinetwegen … obwohl das eigentlich ein bißchen unangemessen ist …

(Corinna blickt ihn mit gespielter Entgeisterung drohend an)

Der Redakteur (rasch): Selbstverständlich! Seite Eins! Aber ich kann jetzt kaum noch mit jemand anderem reden.

Corinna: Mit wem willst du denn noch reden? Ich hab dir doch alles erzählt.

Der Redakteur: Wenn man einen Konflikt schildert, müßte man ja eigentlich schon … die andere Seite … (Corinna verzieht verächtlich-drohend die Miene) oder zumindest jemand aus dem Pfarrgemeinderat?

Corinna (prustet los): Der Pfarrgemeinderat! (schroff) Völlig sinnlos! Von dem habe ich mich abgewandt, der ist also von jeglicher Information abgeschnitten.

Der Redakteur: Naja, von den Informationen aus dem Pfarrhaus, klar. Aber von den Informationen aus der Gemeinde …?

Corinna (kalt): Dafür haben die sich noch nie interessiert. Dafür habe ich schon gesorgt!

Der Redakteur (gibt klein bei): Ok … (blickt auf seinen Notizblock) Ääääähm … Du sagtest, Pfarrer Kneif wollte nicht mit eiserner Faust regieren, sondern freie Entfaltung zulassen … Kannst du dazu noch ein bißchen mehr sagen? – Also: Wer alles konnte sich entfalten?

Corinna (hat wieder Oberwasser): Na, ich konnte mich entfalten. Ich mache doch hier alles. (Sie grinst) Deswegen sitzen wir ja jetzt auch hier. (Sie macht eine wegwerfende Handbewegung) Das wird zu viel, wenn wir das alles aufzählen, die ganzen Bauprojekte … (salbungsvoll) da ich ja jemand bin, dem es wirklich um die Kirche geht, fehlt unserem Gotteshaus äußerlich ja jetzt wirklich gar nichts.

Der Redakteur: Fehlte denn früher etwas?

Corinna: Nö, eigentlich auch nicht. Aber jetzt ist alles neu.

Der Redakteur (notiert): Kirche … äußerlich fehlt nichts …

Corinna: Na, und meine ganzen Ämter und Dienste (eifrig): Am Karfreitag durfte ich sogar den Jesus sprechen – ha! das war mir wie auf den Leib geschrieben (salbungsvoll): „Ich gab dir Gnaden ohne Zahl; du schlägst mich an des Kreuzes Pfahl. O du mein Volk“ … (jovial): Also, ich finde das großartig!

Der Redakteur (schreibt Stichpunkte mit, ein wenig peinlich berührt): Hm. Ja. (wie für sich) … Orgel … Ich notiere mir nur eben ein paar Stichpunkte der Sachen, die du alle gemacht hast. (Blickt auf) Aber du hast recht, das sind viel zu viele Beispiele, das können wir nicht alles aufzählen.

Corinna (schneidend): Um Himmels willen! Das hab ich doch nicht über die Jahre sorgsam geheimgehalten, damit du jetzt einen Artikel draus machst! (Sie beugt sich vor und streckt die Hand aus. Scharf): Reiß das Blatt heraus und gib es mir!

Der Redakteur: Meine Recherchen …

Corinna (unterbricht ihn, scharf): Reiß das Blatt heraus und gib es mir!

Der Redakteur (reißt errötend das Blatt aus dem Notizblock und gibt es ihr): Na gut … hier! … Ein letztes noch: Ich verstehe nicht … wenn mit diesen Erzkonservativen da, wenn mit denen, wie du vorhin sagtest, schon längst überhaupt niemand mehr spricht … warum ist es dann so relevant, was sie sagen?

Corinna (von oben herab): Thorben! Du mußt dich in so einen Pfarrer doch mal hineinversetzen. Er steht immer vor dieser riesigen Gemeinde, weiß, da sitzen Leute, die mich kriti … äh … die ihn kritisieren, und er hat keinerlei Möglichkeiten, sich irgendwie zur Wehr zu setzen! (quatscht den Redakteur zu.) Und die Mitbrüder! Kein Verlaß, sag ich dir! Alle haben sie im Laufe der Zeit die Zustände im Pfarrhaus kritisiert. ‚Conrad, du mußt mal eine Gemeindeversammlung einberufen‘, ‚Conrad, du mußt mit ein paar Leuten reden‘, Conrad hier, Conrad da … der Arme mußte ja irgendwann das Gefühl gekriegt haben, er ist nicht mehr Herr im eigenen Haus!

Der Redakteur (blickt auf): Wo ist Herr Kneif eigentlich jetzt gerade?

Corinna: Ach – dem hab ich gesagt, ich krieg das hier ganz gut ohne ihn hin, für uns – äh, für ihn ist es jetzt ja viel wichtiger, daß er draußen bei den Familien noch ein bißchen nett ist.

Der Redakteur (beugt sich wieder über seine Notizen und brummelt mit): Aaalso nochmal: „… nicht mehr Herr im eigenen Haus“ … (er blickt auf) darf ich dich da zitieren?

Corinna (verächtlich): Thorben! Willst du weiterhin Insiderinfos aus dem Pfarrhaus haben oder nicht? Ich möchte selbstverständlich an keiner Stelle genannt werden!

Der Redakteur (errötend): Gut, dann machen wir das so. (Vorsichtig): Aber vergiß nicht, daß die Pressefreiheit …

Corinna (unterbricht ihn, schneidend): Die Pressefreiheit endet da, wo meine Freiheit beginnt. Das weiß hier jeder! Das haben wir in den Publikationen der Pfarrei konsequent so gehalten und das wird der Petershagener Bote jetzt nicht plötzlich anders handhaben. (drohend) In deinem Artikel darf kein Wort über mich und meine vielfältigen Aufgaben in der Pfarrei fallen! Das lenkt nur vom eigentlichen Problem ab! Verstanden?

***

Nacht ist es über Wundersdorf.

Im nahen Petershagen rattern die Druckmaschinen. Als Hanna und Edith sich zum Frühstück treffen, stolpern sie schon auf der ersten Seite ihrer Lokalzeitung über Artikel und Kommentar, die aus einem ziemlich alltäglichen, ein knappes halbes Jahr in der Zukunft liegenden Vorgang ein Top-Skandal-Thema machen – und das, ohne den eigentlichen Skandal auch nur zu benennen.

Edith (gibt Hanna seufzend die Zeitung zurück): „Conrad, sprach die Frau Mama, du gehst fort und ich bleib da!“

Hanna (nickt): Mhm! Das Zitat geht ja eigentlich andersrum …

Edith: Tja … schön wär’s!

Hanna: In unserer Pfarrei stimmt halt einfach gar nichts mehr!

Edith: Wenn der neue Pfarrer Corinna nicht endlich wieder auf Normalmaß herunterstutzt, war Kneifs Weggang jedenfalls völlig umsonst.

Hanna (nickt): Corinnas Bauernopfer!

 

ENDE

Cornelie Becker-Lamers, Weimar

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