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„all Deiner Kinder hohen Lobgesang“

„all Deiner Kinder hohen Lobgesang“

Prolegomena zur Verteidigung eines Gedichtes gegen seine Vertonung

 

Nein – hundertelf wäre Dietrich Bonhoeffer heute wohl nicht geworden. Hundertelf wird man normalerweise nicht. Aber deutlich älter als 39 hätte er sicherlich werden können, hätte die Gestapo ihn, den heute vor genau einhundertelf Jahren am 4. Februar 1906 in Breslau Geborenen, nicht noch am 9. April 1945 auf ausdrücklichen Befehl Hitlers im KZ Flossenbürg umgebracht.

Fast genau zwei Jahre lang war er in Gestapohaft gewesen. Am 5. April 1943 hatte man ihn zugleich mit seinem Schwager Hans von Dohnanyi wegen „Wehrkraftzersetzung“ gefangengenommen und nach und nach Beweise seiner Zugehörigkeit zu den Widerstandsgruppen auch des 20. Juli zusammentragen können. Im Verlaufe solcher Ermittlungen wurde Bonhoeffer am 8. Oktober 1944 aus der berühmten „Zelle 92“ in Berlin-Tegel in das Kellergefängnis des Reichssicherheitshauptamtes in der Prinz-Albrecht-Straße – heute nach der Widerstandskämpferin Käthe Niederkirchner benannt – in Berlin-Mitte verlegt. „Hier ist die Hölle“, erfuhr er schon bei der Ankunft, und einem Mitgefangenen, dem Vetter seiner Verlobten, gegenüber beschrieb Bonhoeffer die nun folgenden Verhöre als „kurz und bündig widerlich“ (Brautbriefe Zelle 92. Dietrich Bonhoeffer – Maria von Wedemeyer 1943-1945, München: Beck Sonderausgabe 2006, S. 206).

Schriftverkehr mit der Außenwelt war fast vollständig untersagt. Drei Briefe durfte Bonhoeffer dennoch losschicken und einer davon ging zu Weihnachten 1944 an Maria von Wedemeyer, seine Verlobte. Er beschreibt darin die tiefe Geborgenheit, die er beim Gedanken an seine große Familie, an seine Braut und an seine Schüler und Studenten an der Front empfindet:

Du, die Eltern, Ihr alle, die Freunde und Schüler im Feld, Ihr seid mir immer ganz gegenwärtig. Eure Gebete und guten Gedanken, Bibelworte, längst vergangene Gespräche, Musikstücke, Bücher bekommen Leben und Wirklichkeit wie nie zuvor. Es ist ein großes unsichtbares Reich, in dem man lebt und an dessen Realität man keinen Zweifel hat. Wenn es im alten Kinderlied [dem sog. „Abendsegen“ aus Engelbert Humperdincks Oper „Hänsel und Gretel“, Anm. d. Verf.] von den Engeln heißt: ‚zweie die mich decken, zweie, die mich wecken‘, so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute unsichtbare Mächte etwas, was wir Erwachsenen heute nicht weniger brauchen als die Kinder.
(zit. nach Brautbriefe, S. 208)

Weiteren Ausführungen des Briefes schließen sich zuletzt „noch ein paar Verse“ an, „die mir in den letzten Abenden einfielen. Sie sind der Weihnachtsgruß für Dich und die Geschwister“. Es ist das siebenstrophige Gedicht mit dem Anfang „Von guten Mächten treu und still umgeben“ – ein „Engellied“, wie Jürgen Henkys in seiner Analyse des mittlerweile zwischen 25 und 50 mal vertonten Gedichtes festhält (Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder, München: Beck 2009, S. 452-461, S. 456):

Die es heute singen, wissen das allerdings kaum. Sie verbinden mit den ‚guten Mächten‘ meist wohl viel allgemeinere, nicht selten freilich auch ganz individuell gepflegte Vorstellungen. Wenn der von sehr handgreiflichen bösen Mächten umgebene Bonhoeffer die biblischen Engel als die verborgen wirkenden und in seiner eigenen Geschichte erfahrbaren ‚guten Mächte‘ deutet, dann gibt er – hier wie auch sonst in seinen Briefen – einen neuen Zugang zu fremd gewordener Glaubensüberlieferung frei.
(ebd.)

Zum geistlichen Lied wurde Bonhoeffers Text, Jürgen Henkys zufolge, in Kreisen der evangelischen Pfarrjugend der DDR, der staatlicherseits bespitzelten „Jungen Gemeinde“, die zum Abschluß ihrer Treffen häufig ausschließlich die siebente Strophe (die heute, bspw. in der Vertonung von Siegfried Fietz als Refrain genutzten Zeilen „Von guten Mächten wunderbar geborgen…“) sprachen, bis der Kirchenmusiker Theophil Rothenberg bei Otto Abel eine erste Vertonung in Auftrag gab und diese umgehend in seine Sammlung „Die singende Schar“ aufnahm.

Im katholischen Gotteslob war das Lied noch in der Ausgabe von 1995 nicht vertreten. Im neuen Gotteslob hingegen findet es sich in gleich zwei verschiedenen Vertonungen – einmal der von Kurt Grahl unter Nr. 430 und zum anderen der von Siegfried Fietz unter Nr. 804 (Regionalteil Ost) – wieder.

In der Jahresschlußandacht 2016 haben wir hier in der Weimarer Pfarrkirche alle sechs Strophen der Vertonung von Siegfried Fietz gesungen. Ab Strophe 4 blieben mir die Worte final im Hals stecken und ich beschloß, mehr über Text und Musik herauszufinden als ich bis dato wußte, um auf PuLa etwas zu schreiben. Was und warum – das lesen Sie morgen in den nächsten Tagen.

Für heute eine geruhsame Nacht!

 

Cornelie Becker-Lamers

 

2 Kommentare

  1. monticola schrieb:

    Der zutreffenderweise zitierte Abschnitt aus Bonhoeffers Brief macht m.E. präzise klar,was Bonhoeffer mit den „guten Mächten“ meint: Es sind die positiven Familienerfahrungen, die die Fähigkeit, sich geborgen fühlen zu können, überhaupt erst begründen, und zu denen er im Gefängnis Zuflucht nimmt. Das Datum des Briefs zusammen mit „flammenden Kerzen“ macht klar, daß dieses Gefühl der Geborgenheit hier mit dem weihnachtlichen Zusammensein der Familie gleichgesetzt wird.

    Dementsprechend ist die „noch einmal zu schenkende Freude“ in Strophe 4 die quasi sakramentale Gegenwärtigsetzung dieses Tatbestands des Urvertrauens durch die reale Gemeinschaft mit den Familienangehörigen. Denn diese reale Gemeinschaft würde, so sie denn zustandekäme, in keiner Weise irgendwelchen praktischen oder gar zukunftsgerichteten Zwecken dienen, sondern allein dem „Gedenken des Vergangenen“.
    Die merkwürdige letzte Zeile dieser Strophe entzog sich schon immer meinem Verständnis, allerdings verbietet es sich angesichts der Entstehungsbedingungen des Gedichts wohl, hier irgendwelche strengen Maßstäbe anzulegen.

    Es handelt sich hierbei nämlich um ein sehr privates Weihnachtsgedicht, das in erster Linie die persönlichen bzw. bürgerlich-familiären Aspekte des Weihnachtsfests besingt. Hinzu tritt der Gebetscharakter durch die Einbeziehung des göttlichen Du. Nicht beabsichtigt war es, ein theologisch durchgearbeitetes Kirchenlied zu verfassen. Daß es in rauschhafter Besoffenheit zu einem solchen wurde, wäre dem Verfasser, so er noch lebte, vermutlich überaus unangenehm. Die Popularität des Gedichts veranschaulicht insofern die Schwierigkeit bestimmter kirchlicher Milieus, zwischen dem Evangelium und ihrer bürgerlichen Existenzform hinreichend zu unterscheiden.

    (Anm. der Redaktion: Zum Thema „bürgerliche Existenzformen und Kirche vgl. auch hier)

    Montag, 6. Februar 2017 um 19:06 | Permalink
  2. monticola schrieb:

    Nochmal zur Verdeutlichung meiner These, warum bei Bonhoeffer die „guten Mächte“ seine positiven Familienerfahrungen sein sollen:
    Natürlich gibt es im christlichen Kontext die „unsichtbare Welt“, in der Regel hierarchisch gegliedert, in der die allerheiligste Dreifaltigkeit, Maria, die Apostel, die Märtyer, alle Heiligen, die himmlischen Heerscharen oder allgemeiner gesprochen Mächte und Gewalten zu finden sind. Bonhoeffer greift implizit auf dieses Konzept zurück, allerdings nur, um analog dazu *seine* persönliche unsichtbare Welt („Es ist ein großes unsichtbares Reich“) zu definieren, in der sämtliche positiven zwischenmenschlichen Beziehungen („Du, die Eltern, Ihr alle, die Freunde und Schüler im Feld“) in ebenfalls hierarchischer Ordnung präsentiert werden.
    Er bemüht diese Analogie, um deutlich zu machen, was seine Frau, seine Familie, seine Freunde, in hierarchischer Abstufung, ihm bedeuten.
    Das ist kein „Engellied“, sondern ein „Familienlied“.

    Montag, 6. Februar 2017 um 20:14 | Permalink

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  1. […] heute geht’s weiter. Zunächst einmal mit der Reaktion auf die beiden Kommentare von Monticola, dessen „close reading“ ihn zu der Überzeugung führt, daß mit den guten […]

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