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„all Deiner Kinder hohen Lobgesang“ – Teil 3

„all Deiner Kinder hohen Lobgesang“ – Teil 3

Versuch einer Verteidigung eines Gedichtes gegen seine Vertonung

 

Denn von wessen Lobgesang als dem der Engel sollte denn sonst in Strophe 6 des Bonhoeffer-Gedichtes „Von guten Mächten“ die Rede sein? Wir werden – wenn auch erst in der nächsten Folge dieses mehrteiligen Textes – anhand eines youtube-Videos auf diese Frage zurückkommen.

Das Lied wurde 2013 ins Gotteslob integriert. Zuvor waren im Jahr 2002 unter Nummer 937 die – wenn ich das im „Geistlichen Wunderhorn“ S. 459 richtig aufgefaßt habe – überhaupt allererste Vertonung von Otto Abel (inklusive des vierstimmigen Satzes, der nach wie vor im Gesangbuch der evangelisch-lutherischen Kirchen Bayerns und Thüringens unter Nummer 65 zu finden ist) von 1959 sowie unter Nummer 936 die Vertonung von Siegfried Fietz (1970 oder später) in den Erfurter Bistumsanhang aufgenommen worden. Im neuen Gotteslob wurde der Abelsche Satz gegen die Vertonung von Kurt Grahl aus dem Jahr 1976 ausgetauscht, der von Fietz blieb drin, wenn auch, und zwar wohl aus theologischen Gründen – auch dazu kommen wir noch –, wiederum in den Regionalteilen.

Tja – Melodie und Satz von Siegfried Fietz scheinen das angetreten zu haben, was man einen „Siegeszug“ nennt. Schauen wir uns die Komposition des  Liedes (GL 804) einmal genauer an. Acht Takte einer sehr bewegungsarmen Melodie werden wiederholt, so daß beide Hälften jeder Strophe melodisch und harmonisch bis auf die Schlußfloskel identisch sind. Dasselbe gilt für den Refrain. Was die Harmonien anbelangt, folgen sie in Strophe wie Refrain dem sehr simplen Schema Tonika (D-Dur) – Dominante (A-Dur – das Zeichen C# meint hier nicht Cis-Dur, sondern bezieht sich auf den Gitarrenakkord und gibt den Baßton an) – parallele Molltonart (h-moll); das waren jetzt die Takte 1-4. Dieses Kompositionsschema wiederholt sich in den Takten 5-8 auf der IV. Stufe, also Subdominante (G-Dur) – deren Dominante (D-Dur/F#) und deren parallele Molltonart (e-moll). Alles wiederholt sich mit der Wiederholung der Melodie sowie zweimal im Refrain, kommt also nochmal und nochmal; und nochmal und nochmal; und nochmal und nochmal, zuletzt mit einer Schlußfloskel, die wir gleich noch besonders betrachten werden.

Dieses sehr einfache Harmonisierungsmuster gründet seine Beliebtheit und Eingängigkeit auf seiner glasklaren Baßlinie. Wenn Sie vom Grundton – in diesem Fall D – einen Halbton tiefer gehen, landen Sie beim Cis. Das ist die Durterz der Dominante A-Dur und Sie können darauf einen A-Dur-Akkord in der ersten Umkehrung aufbauen – mit der Terz im Baß (s. die Gitarrenakkordbezeichnung C#). Wieder einen Ton tiefer und Sie landen beim H, dem Grundton der parallelen Molltonart von D-Dur. Noch einen Ton tiefer und Sie haben ein A als Durchgangston (so auch notiert in Takt 4 des Liedes, GL 804) und können zum nächsten Ton weiterschreiten, dem G und sind beim Grundton der Subdominante von D-Dur, also bei G-Dur. Von G-Dur aus bauen Sie das ganze von vorne auf – Halbton tiefer im Baß – Fis als Terz des D-Dur-Akkords und weiter zum E für e-moll, der parallelen Molltonart von G-Dur. Über das A als Dominante von D kommen Sie zur ursprünglichen Tonart D-Dur zurück und das Ganze kann von vorne beginnen.

Diese schöne, klare und einfache Baßlinie können Sie also auf einem Klavier nachspielen, ob Sie Klavier spielen können oder nicht, denn es ist einfach eine Dur-Tonleiter. In der Melodieführung sind der Phantasie durch diese Harmonienfolge dennoch keine allzu engen Grenzen gesetzt.

Daher fiel mir am vergangenen Sonntag in der Messe in Oberweimar etwas auf, was ich längst hätte realisieren können, was mir aber so noch nicht klar gewesen war. Organist oder Priester hatten nämlich zur Wandlung das Lied GL 188 herausgesucht, bei dem einer Melodie von Andrew Lloyd Webber 2009 von Raymund Weber der Text „Nimm, o Gott, die Gaben, die wir bringen“ unterlegt wurde. Das ist auf den ersten Blick passend, denn beim Original handelt es sich um die Melodie des Stückes „The Last Supper“ (Das letzte Abendmahl) aus Webbers Rockmusical „Jesus Christ Superstar“ (1970), das im Oktober 1971 in New York City uraufgeführt wurde.

Hören Sie einmal in das Original hinein:

Apostles: “Look at all my trials and tribulations/ Sinking in a gentle pool of wine/ Don’t disturb me now I can see the answers/ Till this evening is this morning life is fine

Always hoped that I’d be an apostle/ Knew that I would make it if I tried/ Then when we retire we can write the gospels/ So they’ll still talk about us when we’ve died”

Wenn man sich den Text vor Augen führt, welcher davon handelt, daß die Apostel sich vornehmen, im Ruhestand die Evangelien niederzuschreiben, um über den Tod hinaus von sich reden zu machen, kommt man schnell zu dem Schluß, daß die Kontrafaktur von Raymund Weber das Original an Spiritualität weit übertrifft – so problematisch es sein mag, beim eucharistischen Opfer so viel von den Menschen und so wenig von Jesus Christus zu singen.

Aber um den Text geht es ja heute nicht, sondern um die Melodie und Harmonik. Sicherlich ist Ihnen aufgefallen, wie ähnlich sich Webbers Musicalsong und Fietz‘ Vertonung des Bonhoeffer-Gedichtes sind. In Teilen sind sie sogar identisch, nur unterschieden durch die Taktart: Webber schreibt einen 4/4-Takt, Fietz einen 6/8-Takt. Ich habe die Melodieteile, um die es geht, einmal abgetippt und gegenüber gestellt, damit man es schneller sehen kann, hier:

Melodiegegenüberstellung (eigenes Bild)

Durch die verschiedenen Taktarten – 4/4 bzw. 6/8-Takt – schreibt das Computerprogramm die sich entsprechenden Töne nicht exakt untereinander. Aber man sieht auch so, daß Melodie und Harmonisierung identisch sind, und zwar was den Anfang von Webber und den Beginn des Refrains von Fietz sowie die Schlußfloskel beider Lieder betrifft.

Als mir das aufgefallen war, wurde mir klar, warum ich den schunkeligen 6/8-Takt in Fietz‘ Vertonung immer als besonders unpassend empfunden und lieber geradeaus gesungen habe. Und meine Tochter verstand, warum sie nach dem Schluß des einen Liedes mit dem anderen weiter singen wollte.

Also schon auffallend. In den Gesangbüchern werden beide Kompositionen in der Entstehung auf 1970 datiert. Wie man im Vergleich mit der Vertonung desselben Gedichtes durch Kurt Grahl sieht (vgl. GL 430), kann die Datierung einer Melodie auch mal ganz unterbleiben. Im Falle Kurt Grahls wird lediglich das Geburtsdatum des Komponisten angegeben. Für die Vertonung von Siegfried Fietz wird die Entstehung der Komposition im Jahre 1970 festgehalten – obwohl das Lied auf einer CD des renommierten Gerth-Verlages unter den „schönsten Liedern von Siegfried Fietz – Das Beste aus den Jahren 1971-1974“ auftaucht. Deshalb habe ich oben zur Datierung der Fietzschen Komposition „1970 oder später“ geschrieben. Bei einem Entstehungsjahr 1971 oder später könnte er das Rockmusical von Webber bereits gekannt haben.

Aber ob hier ein Komponist Anregungen von einem anderen übernommen hat und wenn ja, wer von wem, möchte ich hier nicht diskutieren. Im Gegenteil: In meine Argumentation paßt es sogar noch besser, wenn die Stücke unabhängig voneinander im deutschen wie im angloamerikanischen Raum in solcher Ähnlichkeit entstanden wären, denn dann sähe man, wie sehr diese Art der Komposition damals in der Luft lag. Die interessante, aber eben auch verräterisch-charakteristische harmonische Wendung aus Webbers Stück, in Takt 10 die Dominante der parallelen Molltonart einzusetzen und so die unerwartete chromatische Melodieführung aufwärts vom a‘ über das ais‘ zum h‘ zu ermöglichen, finden wir bei Fietz nicht (s. in GL 188 die Melodie auf das Wort „Scheitern“; hier meint das Zeichen F# die Tonart Fis-Dur, nicht den D-Dur-Gitarrengriff , es steht also Fis-Dur zwischen D-Dur und h-moll).

Frappierend aber ist der identische Schluß bei Fietz und Webber. Was passiert in den letzten Takten? Woher das Gefühl von Western-Romantik?

Harmonisch ist für den Schluß ein Dominantseptakkord (A7 bei Webber) bzw. eine Dominantakkord (A) bei Fietz notiert. Durch die Melodieführung, die vom d‘ noch einmal eine kleine Terz abwärts zum h absinkt (drittletzter Ton), um dann final beim Schlußton d‘ und in D-Dur zu landen, durch diese Melodieführung kommt ein „Sieben-Neuner“, ein Dominantseptnonakkord zustande. Das besondere an diesem Akkord – für D-Dur lautet er a-cis-e-g-h – ist, daß er Töne der Dominante – im vorliegenden Fall a-cis-e – und der Subdominante – hier g-h-d – verschmilzt. In den beiden Liedern von Webber und Fietz wird diese Besonderheit deutlich herausgestrichen, da wie gesagt d und h den charakteristischen Melodieverlauf ausmachen.

In Harmonielehrebüchern heißt es: „Der große Nonakkord hat trotz der Doppelspannung von Sept und Non einen überschwänglich-weichen, fast sentimentalen Charakter […]. Dieser im Zwielicht der Dominante und Subdominante schillernde Doppelklang hat in der romantischen Musik einen besonderen Platz eingenommen […] Auch im neuen Volkslied […] findet er sich oft.“ (Dachs-Söhner, Harmonielehre. Erster Teil, München: Kösel 1953, S. 139)

Es verwundert daher nicht, daß diese melodische Schlußfloskel auch in die Filmmusik Eingang fand, und aufgrund des „sentimentalen Charakters“ des Sieben-Neuners eben auch in die musikalische Untermalung der sentimental aufbereiteten Geschichten schlechthin: der Indianer- und Wildwestromantik. 1962 schuf der deutsche Komponist und Arrangeur Martin Böttcher für die Verfilmung von Karl Mays „Schatz im Silbersee“ die Themen der Figuren Old Shatterhand und Winnetou, die dann in den folgenden drei Winnetou-Filmen bis 1965 bekannt und beliebt wurden und weite Verbreitung fanden (Ein Klavieralbum mit den Melodien ist bspw. in Hamburg bei Schacht erschienen).

Wir müssen also leider, leider 😉 mal wieder ein Winnetou-youtube in einen Text einbauen. Bitte, hören Sie die Melodie einmal zu Ende und achten Sie auf die Tonfolge des Schlusses (Minute 0:43-44):

Gehört? Der Sept-Nonakkord als Melodiebaustein in der Schlußfloskel. Unverkennbar.

So. Zurück zu unserem Ausgangspunkt, der Vertonung von Dietrich Bonhoeffers Gedicht „Von guten Mächten treu und still umgeben“ durch Siegfried Fietz. Wir haben jetzt einige Aspekte zusammengetragen, um diese Musik zu analysieren – ihre Harmoniefolge, die Redundanz ihrer vielen Wiederholungen in Strophen und Refrain, ihren Schluß. Stellt man die Vertonung in den Kontext ähnlicher Kompositionen bzw. konkreter Vorbilder, so fällt auf, daß diese Vorbilder sich in Bühnenwerken und Filmmusiken finden.

Damit lassen wir es für heute bewenden. Zu den Folgen dieses Tatbestandes kommen wir dann im nächsten Text dieser Reihe (von der ich, als ich sie zu Bonhoeffers Geburtstag begann, niemals gedacht hätte, daß sie sich so ausdehnen würde)

 

Cornelie Becker-Lamers

Fortsetzung folgt

 

 

 

Ein Kommentar

  1. Thomas schrieb:

    Zwei Kleinigkeiten:

    Die Harmoniefolge sagt ja an sich noch nichts; Nennen wir banale Folgen: Der Pachelbel-„Kanon“ oder die Folias; letzteres über Jahrhunderte variiert.

    Ich denke bei Winetou von der Klangidee immer an „Stern über Bethlehem“ – auch dort hört man das Pferd/die Kokosnüsse reiten.

    Gruß an den Gemahl

    Thomas

    Sonntag, 12. Februar 2017 um 18:17 | Permalink

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